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Krieg und Frieden im Land

"Alles ein bisschen schizo"

Krieg und Frieden im Land: "Alles ein bisschen schizo"
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Es gibt Menschen, die nicht an Panzer als Friedensbringer glauben. Sie finden sich auf der Ostalb und in einem kleinen Ort bei Tübingen, in der SPD und sogar bei den Grünen.

Ein Oberstleutnant aus Hamburg spricht auf einer Friedensmatinee in Aalen, zu der Leni Breymaier, eine linke Sozialdemokratin, Markenzeichen rote Brille, in die Räume der IG Metall einlädt. Eine gewagte Kombination, weil, was soll ein Soldat sagen, über dessen Kasernentor stand: Si vis pacem para bellum. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Falko Droßmann, 49, Drei-Tage-Bart, sauber gezogener Scheitel, sagt: "Schauen Sie sich doch mal die Sponsorenliste der Münchner Sicherheitskonferenz an." Anfänglich hieß sie "internationale Wehrkunde-Begegnung", womit ihr Zweck klarer definiert war. Und tatsächlich, dort trifft sich die Creme der Rüstungsindustrie: Lockheed Martin, Airbus, Rheinmetall aus dem Wahlkreis von Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Krauss-Maffei, Hensoldt, dazu noch Datensammler wie Google und Palantir, aber auch Goldman Sachs und die EnBW. Alles Profiteure eines langen Krieges, betont der Offizier. Die Spannung im Saal steigt.

Kurzer Ortswechsel. Am selben Tag verkündet in München Ursula von der Leyen, CDU, die Präsidentin der EU-Kommission, sie dächten daran, der Rüstungsindustrie subventionsmäßig unter die Arme zu greifen. Ähnlich wie der Pharmaindustrie zu Coronazeiten, als die Impfstoffe knapp waren. Dem Militär mangelt es derzeit an Munition, weniger an Geld. Laut Friedensforschungsinstitut Sipri sind die Rüstungsausgaben 2022 auf einem Rekordhoch angekommen: Spitzenreiter sind die USA mit 801 Milliarden Dollar, gefolgt von China mit 293 Milliarden, auf Platz fünf rangiert Russland mit 66 Milliarden Dollar, Rang sieben belegt Deutschland mit 52 Milliarden Euro.

Ein Offizier warnt vor der "Banalisierung" des Kriegs

In Aalen überrascht der Gast aus Hamburg das Publikum mit der Bemerkung, es werde nicht glauben, "wie viele Unternehmer schon bei mir angeklopft haben". Wegen künftiger Bauaufträge in der Ukraine.

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Oberstleutnant seinen Beruf gewechselt hat. Er ist heute Politiker und sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag, dort im Verteidigungsausschuss. Und dennoch: Hier rührt keiner die Kriegstrommel, wie so viele in Medien und Politik, hier warnt einer vor der "Banalisierung" des Krieges, vor einem leichtfertigen Umgang mit dessen Rhetorik, die Panzern Tiernamen gibt, den Tatbestand verschleiernd, dass sie Tötungsmaschinen sind. Der Oberstleutnant hat viele Auslandseinsätze hinter sich und wünschte sich, dass alle, die nach mehr Waffen riefen, einmal schauten, was sie anrichten. Außenministerin Annalena Baerbock, Grüne, gilt dabei sein besonderes Augenmerk.

Diese Überbietungsspirale, befeuert durch eine publizistische Begleitung, die Bellizisten für klug und Pazifisten für dumm hält, sei "schwer auszuhalten", sagt Droßmann und verweist auf einen, der sich dieser Dichotomie zu entziehen versuche: Olaf Scholz. Der Kanzler sei noch der einzige, der mit Putin telefoniere, vielleicht noch Frankreichs Präsident Macron, betont er, auch im Hinblick auf die Zukunft. Deutschland müsse der "Motor einer Zusammenarbeit" mit Russland sein – nach dem Krieg. Das hat die SPD einst Entspannungspolitik genannt.

Im Krieg geboren, im Krieg sterben? Nein!

Droßmann trifft den Nerv seines Publikums. Es will verhandeln, einen Waffenstillstand, den Krieg stoppen. Helmut Schmidt wird zitiert: "Lieber 100 Stunden verhandeln, als eine Sekunde schießen." Wie das heute geht, wer mit wem, zu welchem Preis, das weiß auch auf der Ostalb niemand genau, zumindest nicht hier unterm Dach der IG Metall, die den Frieden in ihrer Satzung hat, aber auch genau auf die Arbeitsplätze in den Waffenschmieden schaut. Die einstige Losung "Schwerter zu Pflugscharen" hat es nicht zur Produktionsreife gebracht.

Der Älteste im Saal drückt aus, worum es letztlich geht. "Ich bin im Krieg geboren und will im Krieg nicht sterben", sagt Alfred Geisel, und je länger er redet, um so eindringlicher wird seine Stimme. Er habe die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg durchlitten, erzählt der 91-Jährige, erlebe heute, was er nicht für möglich gehalten habe, diesen "irrsinnigen Krieg" in der Ukraine, der ihm wieder schlaflose Nächte bereite, und man rede nicht mehr über Diplomatie, nur noch über Panzer. Dieser "Wahnsinn" müsse beendet werden, und zwar sofort. Was ist überzeugender? Sein persönliches Erleben oder die Analysen der Sofa-Strategen, die Putin zu Verhandlungen bomben wollen?

Geisel war viele Jahre eine wichtige Figur in der Landespolitik. (Seine Tochter Sofie übrigens OB-Kandidatin in Tübingen anno 2022 gegen Boris Palmer.) Von 1972 bis 1996 saß er als SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, 16 Jahre davon als Vizepräsident. Es war auch die Zeit der sozialliberalen Koalition und der Neuen Ostpolitik, die sich einen Wandel durch Annäherung auf die Fahnen geschrieben hatte, erkennend, dass Alles oder Nichts keine Option mehr war.

In Ellwangen war Willy Brandt ein Verräter

Auf der stockkonservativen Ostalb hat der Erkenntnisprozess länger gedauert. Im Juni 1973 stand Geisel vor dem Ellwanger Bahnhof, zusammen mit Willy Brandt, der das Kinderdorf "Marienpflege" besuchen wollte. Statt einer Abordnung örtlicher Honoratioren und des Blasmusikvereins empfing sie ein Trupp junger Unionisten ("Brandt an die Wand"), die den Kanzler als vaterlandslosen Gesellen und Verräter beschimpfte. Seitdem weiß Geisel, wie schwierig die Sache mit der Vernunft ist. (Ein weiteres Beispiel ist Stuttgart 21. Wegen des brutalen Wasserwerfereinsatzes am Schwarzen Donnerstag hat er 2010 seine Verdienstmedaille an der Pforte des Staatsministeriums von Stefan Mappus abgegeben.)

Ja, es soll tatsächlich Zeiten gegeben haben, in denen Sozialdemokrat:innen in dem schwarzen Landstrich der Handschlag verweigert wurde oder die Leute die Straßenseite wechselten, wenn ihnen so jemand entgegen kam, aber das ist nicht mehr so schlimm. Heute sitzen sie zu mehreren in den Parlamenten, und wenn die rote Leni zur Friedensmatinee ruft, die zur "kleinen Zeitenwende" in der großen deklariert wird, eilen mehr als fünfzig herbei.

Sie trauen ihrer Abgeordneten, weil sie keinen Schmus daherredet und weil sie ihr das Engagement abnehmen, auch dass es von längerer Dauer ist. Wer den Vorsitz bei Verdi, bei der SPD im Land und den Endlosstreit mit den Puffbesitzern übersteht – Sexarbeit verbieten ist Breymaiers Topthema –, die darf auch sagen, dass, wer mag, auch den Friedensappell von Schwarzer/Wagenknecht unterschreiben könne und dass das "Bürschle" vom Frühstücks-TV ganz schnell zusammenpacken soll. Das "Bürschle" hatte behauptet, Kanzler Scholz zögere mit den Panzern aus Angst vor einem Atomschlag. Das muss ein Weichei sein.

Keine Talkshow. "Tagesschau" und "Tatort" reichen

Nicht mit Leni, die das ganze Anti-Programm absolviert hat: Mutlangen um die Ecke, Menschenkette, Bonner Hofgarten, Nato-Doppelbeschluss, die Pershing II rauf und runter gecheckt. Flugweite, Flugzeit, Fallout. ABC-Schützen statt ABC-Waffen. Und dann kommt so ein Kerl vom Fernsehen und erzählt von einem Atomschlag, als wär's ein kurzer Regen. Aber lassen wir's mit der Medienschelte. Der Zug ist raus, keine Zeit für die Recherche, kein Personal, die Lokalzeitungen sind auch nicht da, die 60-Jährige ist jetzt bei Instagram, wo die Jungen wieder weg gehen. Sie sagt, sie würde sich viel zu sehr aufregen, wenn sie bei Lanz & Co. reingucken würde. "Tagesschau" und sonntags "Tatort" reichen.

Womöglich braucht's diese Distanz, um im Berliner Treibhaus nicht verrückt zu werden. Wie viele Nullen hat eine Milliarde, wie viele kommen bei hundert Milliarden zusammen? Sie weiß es nicht und stimmt doch zu, diesem Sondervermögen, das der Stärkung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands dienen soll. Wehren müsse man sich schon können, sagt sie, deshalb sei die Nato wichtig, aber ob das 100 Milliarden kosten muss? "Alles a bissle schizo, gell", räumt sie ein und spiegelt damit wider, was alle umtreibt: Wo das alles endet?

Was ist aus den grünen Idealen geworden? Ein Brief

Das fragt sich auch Marie-Luise (Ise) Bausch. Sie ist seit den 1990ern bei den Grünen, sitzt für sie im Gemeinderat von Kirchentellinsfurt, einem kleinen Ort bei Tübingen – und sie ist politisch heimatlos. Sie ist 70, Mutter zweier Kinder, hat ihr Leben lang als Krankenschwester gearbeitet, als Gewerkschafterin für die Rechte der Arbeitnehmer:innen gekämpft, als Atomkraftgegnerin in Brokdorf und anderswo demonstriert, als Friedensfreundin gegen Aufrüstung. Und jetzt ist ihre Partei diejenige, die am lautesten nach immer mehr Waffen schreit.

Das verstört, auch deshalb, weil sie die harten Konflikte kennt, die ihre Generation mit den Eltern hatte, die sich widerstandslos in den Zweiten Weltkrieg hineintreiben ließen. Und es macht einsam, weil sie sieht, dass sie an ihrer Basis von Baerbock-Fans umringt ist. Für die Jungen, stellt sie fest, gibt es nichts zu kritisieren, sie reden auch kaum darüber. Also schreibt sie einen Brief, adressiert an die Bundestagsgrünen in Berlin sowie an zwei Einzelpersonen, von denen sie hofft, verstanden zu werden: Antje Vollmer (79) und Winfried Hermann (70). Kontext veröffentlicht ihn in voller Länge.

Es ist ein Dokument des Schmerzes über den Verlust von Gewissheiten, die sie zu den Grünen gebracht haben. Zuletzt Lützerath, Gasdeals in Katar, längere AKW-Laufzeiten, jetzt immer wieder Hofreiter mit Haubitzen – das kann man als Verrat an grünen Idealen werten. Ise Bausch empfindet wohl so, fragt, warum sie kein Wort darüber verlieren, wie eine Strategie zur friedlichen Lösung des Krieges aussehen könnte? Warum diese "Verniedlichung" schwerer Waffen? Warum diese "Hetzjagd" gegen Scholz und dieses "Kriegsgetöse", in dem Russland "besiegt oder gar vernichtet" werden müsse? Fragen über Fragen, deren Beantwortung, so hofft sie, nicht mit dem Vermerk abgehakt werde, das sei die Stimme einer Putin-Versteherin. Das wird schwer. "Aber man muss doch dagegen halten", sagt sie.


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4 Kommentare verfügbar

  • Hans-Peter Piepho
    am 26.02.2023
    Antworten
    Danke für diesen sehr guten Artikel.

    Ich lese die KONTEXT am liebsten in gedruckter Form, allein deswegen habe ich vor Jahren die wochentaz abonniert. Das dümmliche und unterkomplexe Kriegsgeheul und die unfassliche geschichtsvergessene Russophobie in der taz bringen mich jeden Sonntag an den…
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