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Anne Spiegel und die Männer

Blame Game

Anne Spiegel und die Männer: Blame Game
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Einiges muss schon zusammenkommen, wenn PolitikerInnen die Höchststrafe kassieren und als letzter Ausweg nur der Rücktritt bleibt. Häufig sind Boulevard- und soziale Medien entscheidend mitbeteiligt an der Treibjagd, die Frauen härter trifft als Männer.

Die Verlockung ist zu groß, mit Hilfe von "Bild", "BamS", "WamS", der "Bunten" oder der "Gala" am eigenen Image zu basteln. Auch die Politikwissenschaftlerin Anne Spiegel konnte der Millionen-Auflage nicht widerstehen. Aufgeräumt erzählte die neue grüne Bundesfamilienministerin vor nicht einmal vier Monaten, wie sich ihr Mann "komplett" um den Nachwuchs kümmere, wie das Leben mit Kindern "bunt, spannend und aufregend" sei und er seine Aufgabe "wirklich liebt". Kinder und Karriere dürften kein Gegensatz sein, sagte sie, "für niemanden".

Natürlich kein Wort zur Überforderung und zum Stress, zum Schlaganfall des Gatten 2019 und dazu, dass das Paar im vergangenen Sommer in höchster Bedrängnis die Notbremse gezogen und eine vierwöchige Auszeit genommen hatte. Lauter private Details, die reichlich deplatziert erschienen wären angesichts des Karrieresprungs von Mainz nach Berlin. Vielleicht hätte die 42-Jährige, gebürtig im badischen Leimen, vom linken Flügel der Partei, Mitte März ihren Sturz aus dem Amt vermeiden können mit einem ehrlicheren Blick hinter die Kulissen des Familienlebens. Wenigstens und spätestens vor dem von der CDU beantragten Untersuchungsausschuss "Flutkatastrophe" im rheinland-pfälzischen Landtag. Stattdessen zog sie es vor, über ihre digitale Präsenz und ständige Erreichbarkeit während der vier Wochen in Südfrankreich nach der Flut im Ahrtal Märchen zu erzählen.

Nur die Ministerin selbst, ihr Mann und vermutlich ein engster Kreis wissen zu diesem Zeitpunkt um die familiäre Situation und die Überforderung. "Ein Politiker wäre nie in diese Zwickmühle geraten", lautet einer der ungezählten Tweets nach dem Rücktritt. "Minister würden wahrscheinlich noch als heldenhaft dastehen, wenn sie öffentlich machen, wie sehr sie das Wohlergehen der Kinder und der kranken Frau umtreibt", ein anderer. Der Begriff "vierfache Mutter", der sich durch die gesamte Berichterstattung zum Rücktritt von Anne Spiegel zieht, ist mit diesem sehr speziellen kritischen Oberton übersetzt in "vierfacher Vater" ebenfalls kaum vorstellbar. Von Friedrich Merz, Andreas Scheuer oder Christian Lindner wissen, wenn überhaupt, nur eingefleischte Fans, ob sie Kinder haben.

Ein Satz, den auch nur ein Mann sagen kann

"In unserer Zivilisation ist es üblich, Privates von Politischem zu trennen", sagte kürzlich Winfried Kretschmann mit Blick auf den "bitteren, aber zwingend notwendigen Rücktritt". Ein Satz, den auch nur ein Mann sagen kann. Hat er in mehr als 40 Jahren Politik wirklich die ungezählten Home-Storys vergessen, die Einladungen der Großen, Wichtigen und Beliebten in die eigenen vier Wände, um Geheimnisse zu lüften, Ehefrauen, Kinder, sogar neue Lebensgefährtinnen vorzuführen oder Hunde, Bungalows, Gärten, Küchen, Hobbys und Urlaubsdomizile? Oder wie Annalena Baerbock vor einem Jahr nach ihrer Wahl zur Grünen-Kanzlerkandidatin mit anschwellender Penetranz gefragt wurde, wer sich eigentlich, wenn sie als Frau Politik macht, um die beiden Kinder kümmert? So lange, bis sie – ebenfalls eine Millionenauflage nutzend – in der "BamS" klarstellte, dass ihr Mann Daniel Holefleisch die Familienarbeit übernimmt. "DHL-Manager gibt Top-Job für die Karriere seiner Frau auf", posaunte eine der vielen tendenzösen Überschriften, deren Verfasser das Publikum kitzeln wollen mit diesem Mix aus Erstaunen und unterschwelliger Missbilligung.

Kretschmann liegt aber nicht nur im konkreten Fall falsch, sondern grundsätzlich. Er selber trennt Privates von Politischem weitgehend, verspürt nicht einmal die Versuchung, etwa mit seinem immensen Opernwissen anzugeben. Insgesamt ist so viel Zurückhaltung aber keineswegs "üblich". Ganz im Gegenteil: Gerade Wahlkämpfer spielen gern familiäre Stärken aus, spätestens seit dem berühmten Werbespot Ende der fünfziger Jahre über "diesen Mann, der hier mit Frau und Kind aus dem Bahnhof kommt". Sein Name lautet "Herr Schmidt, Herr Helmut Schmidt" (Wahlwerbespot 1957 auf YouTube). Konrad Adenauer entspannte sich etwa zeitgleich sommers beim Boccia in Cadenabbia, sogar mit Hut und Krawatte, in Schwarz-weiß festgehalten und daheim verbreitet.

Die ganze Nachkriegsrepublik wusste, dass "Fröschle" der Kosename von Kurt-Georg Kiesingers Enkelin Caecilia-Domenica war, die der Großvater natürlich gern auf dem Arm trug. Bekannt war auch, wie er gern zum 1954er St. Emilion, Château Ausone, griff – nicht nur an hohen Feiertagen - und später zum 1958er Château Talbot, St. Julien, Médoc. "Diese Überblendung vom Amtlichen ins Private und umgekehrt ist kennzeichnend (…) für sein eigenes Erscheinungsbild", schrieb einmal der "Spiegel" nach einem Besuch im heimatlichen Tübingen über die "lebenswichtige Funktion des Privaten".

Günther Oettinger gab den emanzipierten Ehemann

Die Geschichte von Baden-Württemberg, das in diesen Tagen 70 Jahre alt wird, ist reich an solchen Überblendungen. Immer wieder führen mächtige Männer, von Lothar Späth bis Walter Döring, ihre Frauen und private Erkenntnisse vor.  Nicht zuletzt, um sich im Laufe der Zeit eine immer modernere Rolle zuzuschreiben. Günther Oettinger gab den emanzipierten Ehemann in einem Doppelinterview mit seiner Frau Inken zu einem Zeitpunkt, da von der Schieflage dieser Ehe schon heftig geraunt wurde. Er bringe zwar nie den Müll weg, stehe aber schon mal abends in der Schlange an der Supermarktkasse ("Die Kassiererin hat sich schon daran gewöhnt"), hieß es da. Nach dem Supermarkt wird bis heute gesucht.

Stefan Mappus gelang es sogar, heimlich den Flugschein zu machen, um sich dann als ganz besonders emsig zu präsentieren, als einer, "der konsequent neben dem politischen und dem familiären Engagement und deshalb vor allem nachts gebüffelt hat". Ein echter Kerl eben. Wie auch Langzeitminister und VfB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, der Jahrzehnte zwischen politischer und sportlicher Leidenschaft switchte, durchaus immer wieder der sportlichen den Vorzug gebend und gerade deshalb äußerst populär. Ganz andere Erfahrungen machte in eben jenen Jahren Familien- und Frauenministerin Brigitte Unger-Soyka (SPD), die sich Mitte der 90er eine ganze Legislaturperiode dafür schelten lassen musste, dass sie "kein Männerleben" zu führen gedenke und ihr Büro regelmäßig früher verlassen werde, um zum Wohle der Familie von daheim in Heidelberg zu arbeiten.

So ungefähr 20 Jahre später gründete die alleinerziehende Grüne Franziska Brantner im Bundestag die Initiative "Eltern in der Politik" mit. Unter anderem, weil Frauen auf einer Liste der "faulsten Abgeordneten" gelandet waren, nachdem sie während ihres Mutterschutzes bei namentlichen Abstimmungen gefehlt hatten. Niemand war bis dahin auf die Idee gekommen, diesen Grund fürs Fernbleiben besonders zu kennzeichnen. Inzwischen gibt es ein Spielzimmer und die Bundestagverwaltung erlaubt, welch eine Revolution, dass Parlamentarierinnen ihre Kleinkinder zu namentlichen Abstimmungen in den Plenarsaal kurz mit hineinnehmen dürfen. "Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt", sagte Herta Däubler-Gmelin einmal, die Sozialdemokratin und Bundesjustizministerin, die als junge Abgeordnete zwei Mal Mutter wurde. Und dass es ohne Emanzipation der Männer keine Emanzipation der Frauen geben könne.   

Auch Kabinettsmitglieder können eine Auszeit nehmen

Nach dem Fall der Anne Spiegel geloben Chefs Besserung. Natürlich hätten die Bürgerinnen und Bürger das Recht darauf, dass "Regierungsgeschäfte vollumfänglich gewährleistet" sind, sagt der grüne Ministerpräsident Kretschmann. Allerdings gebe es in jedem Ressort einen Staatssekretär, und da müsse eine Pause "ja wohl gehen und man das hinbekommen". In der letzten Regierungssitzung vor Ostern fühlte er sich zu dem Hinweis aufgerufen, dass selbstverständlich Kabinettsmitglieder eine Auszeit nehmen können bei privaten Problemen mit Kindern, einer Krankheit oder der Pflege der Eltern. Denn: Auch in politischen Führungsämtern müssten Familie und Beruf vereinbar sein, jedenfalls bei Problemen.

Womit aber der Normalfall einer reibungsarmen Vereinbarkeit noch lange nicht beschrieben ist. Und der Praxistest steht ohnehin aus. Als Finanzminister Danyal Bayaz wenige Tage nach der Geburt seines ersten Sohnes im vergangenen Sommer laut über die Möglichkeit einer Elternzeit nachdachte, gab es vom Parteifreund in der Villa Reitzenstein prompt eine Aufforderung zum Maßhalten: "Er kann das natürlich nicht machen wie irgend sonst jemand."

Wieso eigentlich nicht? Neuseeland hat’s vorgemacht, als Premierministerin Jacinda Ardern – weltweit, abgesehen von gekrönten Häuptern seit Kaiserin Maria Theresia, überhaupt erst die zweite Regierungschefin, die im Amt Mutter wurde – sechs Wochen ihren Stellvertreter seines Amtes walten ließ. Spiegel hatte schon als Landtagsabgeordnete drei Kinder bekommen. 2018 schob sie das vierte durch die Gänge des Bundesrats, begleitet von Fotografen und den staunenden Blicken mancher Ministerkollegen. Erst wenn die Linsen der Kameras und dieses Staunen in den Augen als völlig deplatziert wahrgenommen werden, ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, egal ob für Mutter oder Vater, im Alltag angekommen. Und das dürfte dauern.


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10 Kommentare verfügbar

  • Nik
    am 23.04.2022
    Antworten
    Dietmar hat recht. Wer geht da noch in die Politik? Wo wird eigentlich belegt, dass das Frauen öfters trifft?
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