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S 21: Ein bodenloses Projekt

S 21: Ein bodenloses Projekt
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Die eigenen Gutachter sagen, was die Bahn verschweigt: Die Risiken beim S-21-Tunnelbau sind deutlich „unterbewertet“. Eine gefahrlose Nutzung kann „nicht sichergestellt“ werden. Wenn der Anhydrit im Untergrund quillt, müssen die Tunnel „neu gebaut“ werden. Das stellt die KPMG fest, die im DB-Auftrag „streng vertraulich“ geprüft hat. Kontext hat ihre Expertise gelesen.

Wenn die Aufsichtsräte der Deutschen Bahn AG am 14. Dezember wieder über Stuttgart 21 diskutieren, dann liegt in ihren Arbeitsmappen ein 167 Seiten starkes Dokument mit dem Aufdruck "streng vertraulich". Es trägt den Titel: "Überprüfung des Berichtes zur aktuellen Termin- und Kostensituation Projekt Stuttgart 21". Als Verfasser sind ausgewiesen die Prüfgesellschaft KPMG sowie die Schweizer Ernst Basler + Partner AG.

Die Aufseher werden auf den ersten zehn Seiten feststellen, dass man sie offensichtlich für beschränkt hält. In einem vierseitigen Abkürzungsverzeichnis wird ihnen erklärt, dass "ca." zirka bedeutet, "etc." et cetera, "inkl." inklusive und "S." Seite meint. Wenn sie dann allerdings versuchen sollten, sich im Text zurecht zu finden, könnten sie geneigt sein, das Papier entnervt beiseite zu legen.

Beispielsweise bei einem Satz wie diesem: "In einer alternativen Risikobetrachtung wurde die deterministische Angabe der CaC (Cost-at-Completion) für Stuttgart 21 einer stochastisch vorgenommen Risikoermittlung gegenübergestellt, mit dem Ziel, den deterministisch ermittelten Wert der Risiken und die Gesamtkostenprognose besser einordnen zu können."

Weniger verschwurbelt ausgedrückt: Stochastik hat etwas mit der "Kunst des Vermutens" zu tun, was sich auf den Seiten 13, 131 und 138 darin widerspiegelt, dass einerseits als "Gesamtkosten" für Stuttgart 21 "rund € 6,3 bis € 6,7 Mrd." genannt werden und andererseits von einer Inbetriebnahme "zwischen Dezember 2022 und Dezember 2024" ausgegangen wird. Was aber ist, wenn S 21 wirklich erst 2024 in Betrieb geht? Drei Jahre später als offiziell geplant. Da hätte man von der KPMG gerne eine Kostenschätzung - gerne ohne Stochastik - gehabt. Da geht es um viele Hundert Millionen Euro mehr, die als Risiko einzurechnen sind. Nichts davon in dem Gutachten.

In aller Unabhängigkeit werden nur die eigenen Leute gefragt

Konkreter ist die Liste der 30 Personen, die "als Auskunftspersonen zur Verfügung" standen. Es handelt sich ausschließlich um Menschen, die in Lohn und Brot bei der Bahn beziehungsweise der Bahntochter "DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH" stehen. Wobei man dann auch wieder stutzt. Volker Kefer wird nicht genannt. Ausgerechnet derjenige, der bis Mitte Juni 2016 als Vorstand für Infrastruktur und Technik für Stuttgart 21 verantwortlich war - plötzlich ein Nichts und ein Niemand? Wieso wurde der Ewig-Lächler nicht um Auskünfte gebeten, dessen Abgang selbst die FAZ als "gravierend für Stuttgart 21" ansah? Dieser Top-Mann hätte gewiss viel über Kosten und Termine erzählen können.

Völlig unerwünscht war offensichtlich Sachverstand von außen. Niemand aus dem Büro der Vieregg-Rössler GmbH, das mehrere Gutachten zu den Kosten vorlegte, wurde befragt - geschweige denn, dass ihre Expertisen erwähnt worden wären. Niemand vom Bundesrechnungshof, der sich seit zwei Jahren mit Stuttgart 21 intensiv befasst, wurde angehört - geschweige denn, dass der BRH im Gutachten erwähnt würde. Vieregg-Rössler kam bereits Anfang 2016 auf Gesamtkosten von 9,8 Milliarden Euro und auf einen Fertigstellungtermin 2023 oder 2024. Der BRH legte im Oktober 2016 seinen Bericht dem Bundestag vor - mit sehr ähnlichen Ergebnissen wie Vieregg-Rössler.

Stattdessen wird dutzendfach eingestreut, was die Auftragsprüfer alles nicht hatten, wo sie nicht Einsicht nehmen konnten. Sie konnten keinen Finanzierungsvertrag studieren, die "Zusammenstellung der Gegensteuerungsmaßnahmen" der Bahn (um doch noch näher an den ursprünglichen Termin der Fertigstellung zu gelangen) "liegt uns nicht vor", bekundet die KPMG, sie befinde sich laut DB "noch im Ideen-Stadium", weshalb man auch "keine abschließende Würdigung vornehmen" könne. Alle Daten waren nur auf elektronischer Basis vorhanden, eine Einsicht in Originale sei "nicht möglich" gewesen. Schließlich habe man "auf die Einholung einer Vollständigkeitserklärung verzichtet".

Überraschung: Der Finanzierungsrahmen ist "nicht ausreichend"

Und dann gibt es wieder überraschende Erkenntnisse, die tiefer blicken lassen. Insgesamt könne nicht ausgeschlossen werden, schreiben die Prüfer, dass der Finanzierungsrahmen aufgrund der beschriebenen Effekte "nicht ausreichend ist". In Anbetracht des noch langen Zeitraumes bis zur Fertigstellung könne er "nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 55 % unterschritten" werden. Auch die offiziell ausgerufene Inbetriebnahme scheint den Gutachtern nicht geheuer. Als frühest möglichen Termin sehen sie den "Fahrplanwechsel im Dezember 2022" - aber nur "unter der Voraussetzung, dass die Gegensteuerungsmaßnahmen greifen, die zusätzlichen von uns (!) identifizierten Risiken nicht eintreten und keine zusätzlichen Verzögerungen eintreten..."

Bemerkenswerterweise gehören zu den ausgespähten Gefahren nicht: Der Brandschutz im Tiefbahnhof, der Kapazitätsabbau, das Gefälle der Gleise, das beim Sechsfachen des "eigentlich" Gestatteten liegt. Nichts davon wird erwähnt, und dabei kann jedes dieser Probleme dazu führen, dass die Inbetriebnahme massiv hinausgezögert wird. Am Ende ist sogar offen, ob, laut Bundesrechnungshof, die DB für den Tiefbahnhof "eine Betriebsgenehmigung erhalten" wird.

Andererseits entdeckt man wieder Passagen, die verdeutlichen, wie dünn inzwischen das Eis ist, auf dem sich die Bahn bewegt. An einer Stelle ist die Rede davon, man könne die Verzögerungen durch die "Einführung einer zweiten Schicht" reduzieren - Arbeiten von 4 bis 14 und von 14 bis 24 Uhr. Hier habe der Auftragnehmer Züblin erklärt, es fielen dafür "keine zusätzlichen Kosten" an. Das wird die betroffenen Anwohner erfreuen.

Wenn der Anhydrit quillt, ist Gefahr in Verzug

Eine echte Fundgrube ist das Dokument beim Thema Untergrund. Rund zehn Seiten des Gesamttextes widmen sich dem Aspekt Anhydrit. Ausdrücklich schreiben KPMG und Basler, dass das Risiko, das mit dem Untergrund verbunden sei, seitens der DB AG deutlich "unterbewertet" worden sei. Obgleich es eigentlich ein Muss sei, dass es bei den Tunnelbauarbeiten im Anhydrit-Bereich "keinen Wasserzutritt" gebe, habe man "bei einer Begehung am 17. August 2016" eben dies festgestellt: "Wasserzutritte". Im Dokument wird festgestellt: "Die Erfahrung zeigt, dass Tunnelbau ohne Wasser nicht möglich ist".

Insofern halte man es "nicht für realistisch, dass das Quellen des Anhydrit mit absoluter Sicherheit vollständig vermieden werden kann". Komme es dann zu "Anhebungen von mehr als 10 Zentimetern", dann müsse der entsprechende Tunnel "neu gebaut" werden. Ein entsprechendes "Ereignis" könne "vom Zeitpunkt des Ausbruchs" (der ersten Tunnelbohrungen) "bis hin zur kommerziellen Inbetriebnahme eintreten". Wobei das KPMG-Team hinzufügt: "Spätere Zeitpunkte werden nicht betrachtet." Was also nach einer Inbetriebnahme der S-21-Bauten so alles in den Röhren passieren kann, das bleibt für die Bahn-Checker Schall und Rauch.

Ganz treu- und offenherzig steht so auch auf Seite 52: Es gibt "keine bautechnische Lösung, welche eine risikofreie Nutzung [der S21-Tunnelbauten - d. Red.] über Jahrzehnte zuverlässig sicherstellen kann." Oder: "Der Bauherr muss sich bewusst sein, dass bei jedem Tunnel im Anhydrit inhärent ein im Ingenieurbau unüblich großes Risiko für die Bautauglichkeit besteht." Es könne sogar dazu kommen, dass sich "Tunnelröhren als Ganzes [...] anheben". Insofern erachte man "die diesbezügliche Problemerfassung" (also die Darstellungen des Auftraggebers und die damit verbundenen Kostenschätzungen) als "nicht ausreichend".

Ein Trost hat die KPMG doch noch parat. Sollte es an der Oberfläche zu Erdbewegungen kommen, und selbige "Gebäudesanierungen" erforderlich machen, dann seien diese "auskunftsgemäß" durch Versicherungen der Deutschen Bahn AG "abgedeckt". Potenziell einstürzende Neu- und Altbauten verursachten somit keine gesonderten, im Kostenplan zu veranschlagenden Kosten.

Und so fügt sich das eine zum andern. Bahnchef Rüdiger Grube sagt, Stuttgart 21 sei "nicht von der Bahn erfunden" worden, und er hätte es "auch nicht gemacht". Manfred Leger, der Geschäftsführer der Projektgesellschaft Stuttgart - Ulm, verkündete jüngst im Stuttgarter Rathaus, es sei nicht die Bahn gewesen, die sich diesen "Luxusbahnhof" ausgedacht habe. Und jetzt kommt ein "streng vertrauliches" Bahn-Gutachten auf den Tisch, das, trotz aller Widersprüchlichkeit und Gefälligkeit, eines belegt: das Jahrhundertprojekt ist bodenlos.

 

Winfried Wolf ist einer der Redner auf der 350. Montagsdemo am 12.Dezember in Stuttgart.


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10 Kommentare verfügbar

  • M. Schenk
    am 06.12.2016
    Antworten
    Zwei Klärungen (etwas länglich - sorry):

    @Wolfgang Kaemmer, 05.12.2016 10:16

    Die Inbetriebnahme fahrplanrelevanter Bauzustände (zB IBN eines neuen Bahnhofes) wird in aller Regel mit dem Fahrplanwechsel Mitte Dez. vorgenommen, da die betrieblichen Veränderungen in den Fahrplan einfließen…
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