Innenminister Reinhold Gall wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als ihn eine Himbeer-Sahne-Torte in der linken Gesichtshälfte traf. Die "Heilbronner Konditorei für konsequente Aufklärung" hatte zugeschlagen. Der Tortenwurf ereignete sich am vergangenen Freitag auf einer Tagung der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, die unter dem Titel "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit von Buchenwald bis zu den NSU-Morden" unter anderem Gall aufs Podium geladen hatte.
Zunächst traf Gall ein Zuruf aus dem Publikum: "Warum gibt es keinen NSU-Ausschuss in Baden-Württemberg?" Die Irritation im Raum nutzte ein 19-jähriger Aktivist des anonymen Konditorei-Kommandos, um aus seinem Rucksack unbemerkt das zuckersüße Corpus Delicti hervorzuholen. Aus der ersten Reihe des Publikums verfehlte die Himbeer-Sahne-Delikatesse ihr Ziel nicht.
Während Galls Sicherheitsleute den Tortenwerfer unsanft überwältigten, putzte sich der getroffene Minister die Sahne aus dem Gesicht. Die Veranstaltung war für ihn damit beendet, Anzeige stellte er bislang nicht.
Der inzwischen von der Boulevardpresse zum "Tortenterroristen" Stilisierte kam nach Feststellung seiner Personalien auf der nächstgelegenen Polizeiwache noch am selben Abend wieder auf freien Fuß. Im Gespräch mit Kontext äußert er sich über die Motive hinter dem Tortenwurf: "Gall ist derjenige, der in Baden-Württemberg seit Monaten einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU blockiert", betont er.
Sahnehäubchen auf den Forderungen nach einem U-Ausschuss
Nach Auffassung des Heilbronner Tortenkommandos gibt es eine Vielzahl von "Verstrickungen", die einer dringenden Aufklärung bedürften. In einem <link https: linksunten.indymedia.org de node _blank>Bekennerschreiben erwähnt die Gruppe etwa die Verflechtungen zwischen der rechtsterroristischen Vereinigung NSU und der Neonaziszene in Baden-Württemberg. Vor allem der ebenfalls dem NSU zugeordnete Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter gibt bis heute Rätsel auf. Unklar ist etwa die Rolle eines baden-württembergischen Ablegers des Ku-Klux-Klans. Dessen Chef war lange Jahre als V-Mann des Verfassungsschutzes aktiv. Außerdem waren zwei Kollegen der getöteten Kiesewetter zumindest kurzzeitig Mitglieder des rassistischen Kapuzenclans.
Auch der Tod von Florian Heilig solle in einem Untersuchungsausschuss thematisiert werden, fordert der Tortenwerfer. Heilig galt als Aussteiger aus der rechten Szene. Im September 2013 hätte er den Ermittlern des Stuttgarter Landeskriminalamts erneut zu einer älteren Stellungnahme Auskunft geben sollen. Heilig hatte einst angegeben, die Täter hinter dem nach wie vor rätselhaften Polizistinnenmord von Heilbronn zu kennen. Zu seiner erneuten Vernehmung kam es nicht: Wenige Stunden vor seiner Aussage verbrannte Heilig in seinem Auto – die Polizei geht von "Selbstmord" aus.
Trotz weiterer offener Fragen im NSU-Komplex scheinen die Parteien im Stuttgarter Landtag bislang unwillig, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten, wie ihn etwa die Grüne Jugend, der Deutsche Gewerkschaftsbund oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes fordern. Gestartet wurde auch eine <link https: www.openpetition.de petition online nsu-untersuchungsausschuss-jetzt _blank>Online-Petition. Dass die Torte in Galls Gesicht den entscheidenden Anstoß zu ernsthafter Aufklärung der Causa NSU im Ländle geben könnte, bezweifelt aber selbst der Tortenwerfer: "Das war der erste und einzige Auftritt der Heilbronner Konditorei für konsequente Aufklärung. Es war vor allem eine symbolische Aktion gedacht, die eine zivilgesellschaftliche Debatte über Rassismus anstoßen sollte."
Der Zeitpunkt der Aktion war allemal sehr bewusst gewählt: Am Mittwoch dieser Woche veröffentlicht die Ermittlungsgruppe Umfeld des Landeskriminalamts Baden-Württemberg offiziell ihren Bericht zu den Verbindungen des NSU im Südwesten – womöglich der vorerst letzte Anlass, öffentlichkeitswirksam einen Untersuchungsausschuss des Landtags zu fordern.
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Alexander Schäfer
am 15.08.2014