Ganz vorne im Regal liegt Annette Schavans Freizeitkarte für den Alb-Donau-Kreis. Sie lächelt auf dem Cover. Daneben werben die Diözese Rottenburg, die katholische Arbeiterbewegung (KAB) und das Krippenmuseum Oberstadion mit Drucksachen. Willkommen in Oberschwaben, genauer gesagt im Rathaus Rechtenstein, das für 279 Einwohner zuständig ist. Der Flecken liegt zwischen Ehingen und Riedlingen, direkt an der Donau und der Bahnlinie Ulm–Freiburg, womit ein Bahnhof verbunden ist, an dem täglich vier Züge unter einem voll verrosteten Ortsschild halten.
Nun kann der Rechtensteiner hier nicht einfach einsteigen beziehungsweise eine Fahrkarte lösen. Dafür gibt es weder Personal noch Automat, dafür gibt es das Rathaus. Dort muss er hin, um ein Ticket zu erwerben, das ihm handschriftlich ausgestellt wird, wobei die Zahl der Reisenden an einer Hand abzuzählen ist, wie Sekretärin Gabriele Glökler sagt. Ihrer Chefin gefällt das gar nicht. Sie heißt Romy Wurm und genießt laut Frau Glökler "Promistatus", weil sie immer wieder in der Zeitung steht und im Radio spricht. Das kommt davon, dass sie für die CDU im Kreisvorstand sitzt, für Tagesmütter kämpft und, nach eigener Einschätzung, nicht die typische Oberschwäbin ist.
Rechtenstein ist für die Bahn ein schwarzes Loch
Das stimmt. Gold an den Ohren, am Finger und am Arm. Sie sehe eben immer so aus, als hätte sie "gerade einen Juwelierladen überfallen", sagt die 58-jährige Bürgermeisterin, die so etwas natürlich nie tun würde. Lieber erschreckt sie die Deutsche Bahn. Dann steht sie auf dem verratzten Bahnsteig, hebt die Hand zum Stoppsignal, als könne sie die Züge, die durchfahren, damit aufhalten. Das juckt die freilich nicht, genau so wenig wie die Bahndirektion in Karlsruhe, die ihr mitgeteilt hat, Rechtenstein existiere für sie nicht, Rechtenstein sei für sie ein "schwarzes Loch". Möglicherweise könnte das damit zusammen hängen, dass die Bahn schon vor 30 Jahren die Lampen am Gleis abgerissen hat.
Aber jetzt ist Hoffnung am Horizont: Stuttgart 21. Wie Donnerhall hat sich zwischen Ulm und Bodensee die Kunde verbreitet, dass das Jahrhundertprojekt ein Segen sei für die Region. Dass damit endlich Schluss sei mit dem Schattendasein im Schienenland, dass damit das Tor nach Paris und Bratislava weit offen stünde. Davon ist auch Romy Wurm überzeugt, weshalb sie mit allen Bürgermeistern der umliegenden Gemeinden mächtig Werbung gemacht hat. Mit markigen Erklärungen ("einmalige Chance") und besonders gern in ihren Amtsblättern, in denen sie den Leuten versprochen haben, mit Stuttgart 21 plus Neubaustrecke könnten ihre Kinder und Enkelkinder "künftig ohne Probleme naturnah und günstig" in der Raumschaft wohnen und "gleichzeitig im Großraum Stuttgart qualifiziert arbeiten".
20 Kommentare verfügbar
Fred Heine
am 03.12.2013Wie kommen Sie zu dieser Aussage: "Vor der Volksabstimmung wurde in Stuttgart und im Stuttgarter Umland intensiv über die Vor- und Nachteile von S21 debattiert. Die Abstimmung ist aber woanders entschieden worden, und zwar in Rechtenstein, Obermarchtal,…