Bruchsal, Bürgerzentrum, Kleiner Saal. Die große SPD im kleinen Saal! Hier beginnt der Vorsitzende sein Versprechen vom Leipziger Parteitag einzulösen, "überall hinzufahren, wo immer wir können, selbst wenn wir uns die Nächte um die Ohren schlagen". Noch bevor der Koalitionsvertrag überhaupt vorliegt, erprobt Gabriel seine Strategie der geteilten Verantwortung, will jedes einzelne Mitglied in die Pflicht nehmen, mit Sätzen wie "Wenn die Führung wackelt, wackelt die ganze Partei" oder "Ihr da oben, wir da unten, das funktioniert dann nicht mehr". Oder mit dem drohenden Hinweis, es gehe für die SPD gleich um die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte. Am Ende stehende Ovationen mit geringer Aussagekraft über die tatsächliche Stimmung. Denn: Auf Regionalkonferenzen wie dieser kommt ein allein durchs rote Parteibuch geeintes Zufallspublikum zusammen. Dem Appell Gabriels, im Fall des Falles "so zu handeln, wie der Vorsitzende handeln würde", stehen viele ratlos gegenüber. Genauso wie dem Vorwurf, zu viele in der SPD hätten keine Respekt vor Kernwählern. Und erst recht dem rapiden Befund: "In keiner Partei ist der Selbsthass so groß wie in der SPD."
Ausgerechnet diese Partei soll Schwerwiegendes entscheiden. Mitbestimmung hat Hochkonjunktur. Bis zum 6. Dezember finden, wenn es denn dazu kommt, bundesweit 472 000 Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen – 1990 waren es noch doppelt so viele – Briefwahlunterlagen in ihrer Post. Sie werden eine Sonderausgabe des altehrwürdigen "Vorwärts" in Händen halten und sich daheim mit dem Koalitonsvertrag befassen – oder es lassen. Eine Rohfassung, die es bereits am Dienstag ins Netz geschafft hat, illustriert die Dimension: Rund 200 Seiten gilt es zu beurteilen.
"Unbeeinflussbar und mit völlig unkalkulierbarem Ausgang", klagt ein Ortsvereinsvorsitzender in Bruchsal. Die Führung überlasse es den Medien, "zu informieren, zu gewichten, zu deuten, zu interpretieren und Meinung zu machen". Das sei "der reine Wahnsinn". Die Grünen in Hessen, seit gut 30 Jahren erfahren in Beteiligungspro- und -exzessen, verlassen sich in der so schwierigen wie weitreichenden Entscheidung über die erste Koalition mit der CDU in einem Flächenstaat auf die eingeübten Verfahren in den Gremien. Nicht die Basis, ein Parteitag trägt die Last der Verantwortung.
Nicht so in der SPD. Die lobt Gabriel als Avantgarde ("Wir formulieren neue Standards, an denen sich andere messen lassen müssen"), dabei sitzt sie in Wirklichkeit in einer Falle – und baden-württembergische Spitzengenossen sind stolz darauf, diese Falle mit aufgestellt zu haben. Endlich seien die guten Erfahrungen im Südwesten, strahlt der Landesvorsitzende Nils Schmid in Bruchsal ins Auditorium, auf der Bundesebene angekommen. Er verweist auf die Befragung zum grün-roten Koalitionsvertrag von 2011. Dieser Befragung fehlt allerdings alles zur Positiv-Blaupause für den aktuellen Vorgang: Bei 34 Prozent Teilnehmenden und 91 Prozent Ja-Stimmen beträgt die Zustimmungsrate rund 33 Prozent. Oder im Umkehrschluss: Etwa 70 Prozent der Mitgliedschaft im Land konnte sich, warum auch immer, nicht dazu entschließen, das 93-seitige Papier ("Der Wechsel beginnt") abzusegnen. Und das in der Aufbruchsstimmung nach dem Ende der 58-jährigen CDU-Herrschaft in Baden-Württemberg.
So viel ideologischen Gleichmut wollen viele nicht hinnehmen
"Mehr Demokratie wagen", jene Losung von Willy Brandt, den Gabriel so gern und so oft zitiert, stammt aus der Regierungserklärung von 1969. Er kündigte an, die Menschen zur Mitverantwortung zu ermutigen. Und weiter: "Eine solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen." Genau dafür ist in der innerparteilichen Partizipation aber wenig Zeit und Raum. Denn grundsätzlich "sind direktdemokratische Elemente zwar etabliert, werden jedoch fast immer nur angewendet, wenn sich die betreffende Partei in einer schwierigen Situation befindet", schreibt die Politikforscherin Manuela Glaab und nennt als Beispiel das Basisvotum für den glücklosen Rudolf Scharping, der Mitte der Neunziger nach nur zwei Jahren im Vorsitz per Parteitagsbeschluss bekanntlich von Oskar Lafontaine abgelöst wurde.
Dutzende Studien sind verfasst zu Fragen der innerparteilichen Demokratie. Sie kann Spaltungs- und Lähmungsprozesse auslösen oder rhetorisch begabten Charismatikern ermöglichen, programmatische Veränderungen durchzusetzen, die im herkömmlichen Abstimmungsverfahren keine Mehrheit fänden. Dass Sigmar Gabriel mit Abstand der beste Redner der SPD-Bundestagsfraktion ist, wird kaum jemand bezweifeln. Nur, was hat er vor? Er will der Partei einen Koalitionsvertrag vorlegen, dem sie zustimmen kann, mit Mindestlohn und doppelter Staatsbürgerschaft, mit der abschlagsfreien Rente ab 63 für alle, die 45 Jahre ins System eingezahlt haben. Engagiert betet er den Kanon herunter, "ohne den nichts geht". Allein er will, durchaus bekannt für eine gewisse Sprunghaftigkeit, noch mehr: eine Politik machen, "mit der wir 2017 wieder vorne liegen, und ob dann der Juniorpartner CDU, Grüne oder Linke heißt, ist mir völlig egal".
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kotzanek
am 02.12.2013