Freischwebend, ohne Verankerung oder Netzwerk, will sie "die Demokratie im Land revitalisieren". Klingt kühn. Und soll es auch sein. Die Realität ist spröder: Ein Umfeld, dem es nicht einmal gelingt, die politischen Erfolge des populären Regierungschefs zuverlässig in die Welt hinauszutragen. Pannen häufen sich, das Beteiligungsportal holpert, vom angekündigten Leitfaden für neue Planungskultur liegen die Eckpunkte bald ein Jahr auf dem Tisch, die Ausarbeitung lässt auf sich warten. Und jüngst die Demokratiekonferenz mit dem Schweizer Kanton Aargau, bereits die zweite ihrer Art, fand praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: gleichzeitig mit einer Landtagssitzung, gekrönt von einer Podiumsdiskussion im Stuttgarter Theaterhaus, als die Mehrzahl der Schweizer Gäste längst abgereist waren. Selbst Wohlmeinende schäumen über "so viel Dilettantismus". Mit der Grünen Veronika Kienzle soll nun mehr Professionalität Einzug halten. Die ehrenamtliche Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte ist in der Szene und dem Establishment der Landeshauptstadt bestens verankert. Vorausgegangen sei eine formgerechte Ausschreibung, wird offiziell beteuert. Elegant geht anders.
Auch die SPD stellt sich quer
Verstärkt werden Erlers Probleme durch immer neue Querschüsse all jener, denen die ganze Richtung nicht passt. CDU und FDP mosern oder sperren sich. In einigen Blättern wird gleich nach dem Amtsantritt die "üppige Ausstattung" des Teams – siehe oben – thematisiert. SPD-Genossen waren von Anfang an argwöhnisch, weil sie nur zu genau wissen, dass die "Politik des Gehörtwerdens" grüner Markenkern ist und alle Erfolge vorrangig dem ungeliebten Koalitionspartner nützen. Inzwischen ist der offene Widerstand organisiert: Fraktionschef Claus Schmiedel und die anderen Hardliner haben eine Verknüpfung der Verfassungsänderung in Sachen Volksentscheid mit der Reform der Gemeindeordnung durchgesetzt. Was im Klartext bedeutet: So lange sich die – für eine verfassungsändernde Mehrheit benötigte – CDU nicht bewegt, bewegt sich gar nichts.
Aber auch bei den Grünen wächst die Skepsis. Viel zu vieles werde unverbindlich diskutiert, klagt ein Landtagsabgeordneter. Hinzu kommt, dass etliche Ältere ihre spezielle Geschichte mit der Staatsrätin haben. Wie Winfried Kretschmann hatte sie einst jener ökolibertären Gruppierung bei den Grünen angehört, die staatlichen Einfluss zurückdrängen und ökologischen Grundprinzipien nicht durch Vorschriften, sondern per Freiwilligkeit zum Durchbruch verhelfen wollte. Noch heute verdrehen namhafte Grüne beim Namen Erler die Augen – etwa "weil die strategisch nicht verlässlich war", wie ein Realo meint. Weil sie schon in den Achtzigerjahren mit der CDU liebäugelte, "mit der Kohl-CDU", entsetzt sich ein Fundi auf Knopfdruck.
Angesprochen auf die mannigfaltige Kritik, zuckt die Frau mit dem markanten Haarschopf die Schultern, und ihre Augen blitzen hinter der Brille. Nicht resignativ oder verächtlich, eher selbstbewusst und kampfeslustig. Sie komme nun mal aus der Spontibewegung, sagt die gebürtige Biberacherin. Spontan übrigens habe sie auch jene Zeilen zum Tod Züfles geschrieben. Dass das nicht geschickt war, weiß sie inzwischen selbst, sie bedauert, die passenden Worte nicht gefunden zu haben. Längst ist eine Entschuldigung gepostet. Wieder ein Anlass für virtuelle Häme, der Erler auch staunend gegenübersteht. Soll ich jetzt genauso austeilen?, fragt sie, obwohl die Antwort ohnehin feststeht.
Eigentlich hat eine wie Gisela Erler in Facebook auch gar nichts zu suchen. Nur des Amtes wegen nahm sie die neue Form der Kommunikation auf, von vielen Seiten gedrängt. Und sie hat sich drängen lassen, obwohl sie aus der alten Welt stammt. Seinerzeit, als Denunziation noch Denunziation hieß, als in verrauchten Hörsälen Argumente wie Pfeile flogen, hart, laut, schneidend, beleidigend, aber von Angesicht zu Angesicht, hat sie begonnen, "zwischen den Menschen zu navigieren". Sie wollte selbst etwas bewegen, nicht bewegt werden von anderen. Die SPD des großen Vaters Fritz Erler kam nicht nur aus Abnabelungsgründen nicht in Frage: "Wir haben uns selber organisiert und eingemischt."
Am Anfang stand die Mao-Bibel
Nach Soziologie- und Germanistikstudium gründet sie anno 1967, gerade mal 21, zusammen mit Weggefährten den Trikont-Verlag. 50 000 Mal wurde das "Bolivianische Tagebuch" von Che Guevara auf Deutsch verkauft, 500 000 Mal die Worte des Großen Vorsitzenden, bis heute Mao-Bibel genannt. "Ohne Gewinn", erzählt sie, "darauf waren wir sehr stolz." Später hat sie "in der Zeit der lila Latzhosen", wie sie die Jahre nennt, ihren Stammplatz zwischen den Stühlen erstaunlich schnell gefunden. Ausgerechnet in der Frauenfrage. Heute hat Erler sechs Enkel, damals konnte sie nicht verstehen, wenn sie von Männern als "zu politisch zum Kinderkriegen" einsortiert wurde.
So dachte damals kein kleiner Teil der Spontiszene, in der Linken, aber auch in der Frauenbewegung. Mütter wurden verunglimpft als Muttertiere, und Gisela Erler ging auf Gegenkurs. Sie bestand darauf, dass Mütter "ein intelligentes und erfülltes Leben führen können", und landete prompt in einem riesigen ideologischen Fettnapf. Nicht Kinderkrippe, -laden oder -tagesstätte stellte sie, die inzwischen am Deutschen Jugendinstitut arbeitete, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, sondern – Juno und Walküre – die Tagesmütter. "Das waren doppelt diskriminierte Gestalten", erinnert sie sich. Die Linken hätten unprofessionelle Schmalspurbetreuung unterstellt und die Konservativen die Bedrohung der klassischen Familien. Dass sie sich so wohl fühlte zwischen diesen Fronten, erklärte sie auch mit den frühen Erfahrungen in der profilierten sozialdemokratischen Familie mitten im konservativen Oberschwaben. "Da wird man als Promikind sehr robust", sagt sie, "und das habe ich immer gut brauchen können." Etwa als die FAZ sie in einem herablassenden Porträt zu den "Mitschwimmern der Achtundsechziger-Bewegung" zählte, "die das ideologische Gerümpel schnell über Bord schmissen".
1991, im Zuge eines Auftrags von BWM, entsteht Erlers nächste Firmengründung: die Pme-Familienservice-Gesellschaft, die seither familien- und firmengerechte Betreuungslösungen anbietet. Gerade unter Stuttgart-21-Gegnern geistern Gerüchte durchs Netz, dass Erler mit der Bürgerbeteiligung auch deshalb nicht so richtig vorankommt, weil sie sich vorrangig um 1100 oder 1200 Pme-Beschäftigte kümmern müsse. "Es sind 1500", sagt sie mit ihrem knitzen Lächeln, "und ich bin 2008 aus der Geschäftsführung ausgetreten."
"Ich war und bin eine Pionierin"
Als Kretschmann sie vor zwei Jahren in die grün-rote Landesregierung holte, gab es Vorschusslorbeeren für die "Frau aus der Praxis", die "keine Sonntagspredigerin" sei. Der Kredit war bald aufgebraucht. Zum Beispiel durch den Einfall, in Parlamenten die Fraktionsblöcke aufzulösen, sodass neben einem Linken im Reichstagsgebäude eine Liberale säße, neben einer Grünen ein Bayer von der CSU. Dass daraus nichts werden würde, habe sie gewusst und in Kauf genommen. Auch, dass sie von hiesigen Langzeitabgeordneten mit einem milden Grinsen als naiv eingestuft wurde. Für richtig hält sie den Gedanken heute noch: "Die Parlamentskultur würde sich zum Besseren verändern, wären die abschottenden Strukturen aufgebrochen." Grund genug also, sich immer und immer wieder quer zum Gewohnten zu engagieren. "Ich war und bin eine Pionierin", beschreibt sie sich, "wer vorangeht, muss Rückschläge einstecken ..." – kleine Pause – " ... und kann es auch."
Ob das eines Tages auch für den Filderdialog rund um eine veränderte Flughafenanbindung von Stuttgart 21 gelten wird, ist noch lange nicht entschieden. Gisela Erler, von Kretschmann gerühmt als "Leitfigur der Politik des Gehörtwerdens", hat viel an Reputation verspielt – nicht nur, weil interessengeleitet immer neues Öl in immer neue Feuer gegossen wurde und wird. Namhafte Mediatoren verzweifeln im Rückblick, weil beim Filderdialog versäumt wurde, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Zugleich gelang es weder der Staatsrätin noch dem Moderator Ludwig Weitz, die Möglichkeiten des Verfahrens so zu verdeutlichen, dass zumindest den allzu plumpen Kritikern auf allen Seiten der Wind aus den Segeln genommen wurde.
Am Ende ein Scherbenhaufen
Hoffnungen wucherten, wurden – von der Bahn und Projektbefürwortern – geschürt, mussten enttäuscht werden. Erler hätte sich ganz heraushalten sollen, sagen viele – im Nachhinein. Zu Beginn wäre das Gezänk groß gewesen, hätte sie's getan. Am Ende ein Scherbenhaufen, der Filderdialog ein Synonym dafür, wie Beteiligungsprozesse niemals ablaufen dürfen. "Links unten" sei sie gestartet, urteilen Kopfbahnhofbefürworter im Netz, und rechts oben gelandet. Erler kämpft nicht dagegen an, in der Überzeugung, dass andere in späteren Jahren die Ernte ihrer Arbeit einfahren werden.
8 Kommentare verfügbar
Friedrich Schuster
am 23.08.2014Kretschmann saß lächelnd am Steuer und beschied mir, dass dies leider nicht…