KONTEXT:Wochenzeitung
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Schulprojekt Bismarckschule Stuttgart

Journalismus zum Selbermachen

Schulprojekt Bismarckschule Stuttgart: Journalismus zum Selbermachen
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Halbzeit beim Projekt mit der Bismarckschule in Stuttgart-Feuerbach: Bereits zum vierten Mal war Kontext bei der 8b, um sie bei Themenfindung und Recherche zu unterstützen. In wenigen Wochen sollen die Texte der Schüler:innen in Kontext veröffentlicht werden.

Pausenstimmung an der Bismarckschule in Stuttgart-Feuerbach. Mit dem Läuten der Schulglocke trudeln die Schüler:innen der 8b in das Klassenzimmer im dritten Stock. Alle sind noch quirlig von der Pause, Klassenlehrerin Jennifer Kurrle sorgt mit einem Schlag auf die Klangschale für Ruhe. Neben ihr stehen die Sonderschullehrerin Agneska Mikulevic-Apostolidis und der Pädagoge Matthias Paluszek sowie Kontext-Fotograf Joe Röttgers, die Kontext-Redakteur:innen Gesa von Leesen, Oliver Stenzel und Volontärin Franziska Mayr. Nach dem kollektiven Guten-Morgen-Gruß geht’s auch schon los. "Täglich knipst ihr alle mit euren Handys Fotos von euren Freunden und eurer Familie", sagt Fotograf Röttgers. Er steht vorne am Lehrerpult, 19 neugierige Augenpaare auf ihn gerichtet. "Darf ich auch einfach Fotos von euch machen?" Fünf Hände schießen in die Luft. "Sie dürfen mich gar nicht fotografieren, wenn ich das nicht will", ist ein Schüler überzeugt. Da hat er recht, ohne Einverständnis darf Herr Röttgers das nicht, vor allem nicht veröffentlichen – im Fall der Achtklässler:innen braucht er das Einverständnis der Eltern. "Eine Ausnahme sind Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens", erklärt der Fotograf weiter, da braucht es nicht jedes Mal eine Erlaubnis. "Aber die wollen meistens eh, dass man sie fotografiert."

Bereits zum vierten Mal teilten am vergangenen Donnerstag Kontext-Redakteur:innen und zum ersten Mal auch ein Kontext-Fotograf ihr Wissen über Presse und journalistisches Arbeiten mit den Schüler:innen der 8b der Werkrealschule in Feuerbach. Fake News, Recherche und Themenfindung wurden bereits abgehakt, an diesem Donnerstag soll es konkreter werden: Was für eine Textsorte soll entstehen, was muss noch recherchiert werden, wer sind mögliche Gesprächspartner:innen und wie kommt man an sie ran?

Nach dem Exkurs in die Welt der Fotografie will Röttgers wissen, wen er von den Schüler:innen fotografieren darf. Bislang möchte nur etwa die Hälfte mit Namen und Foto in der Zeitung erscheinen. Während zwei Jungs, die damit einverstanden sind, vor dem klasseneigenen Spiegel ihrem Haarstyling den letzten Schliff geben, findet sich der Rest in den jeweiligen Gruppen zusammen. Und dann beginnt die eigentliche Arbeit.

Inflation, Zigaretten und andere Drogen

Zwei Schülerinnen ziehen sich kurzerhand ihre Jacken über und machen sich gemeinsam mit Kontext-Redakteurin Gesa von Leesen auf, um Menschen auf der Straße zu ihrem Thema zu befragen: Inflation. Etwas aufgeregt, aber unverkrampft gehen die beiden auf die Leute zu. "Was sagen Sie zu den hohen Preisen?", "Haben Sie eine hohe Heizkostenabrechnung gehabt?", "Was sollte die Politik da tun?" Die Mädelsgruppe bestehend aus Maya, Shahd und Phoebe haben sich das Thema ausgesucht, weil sie es tagtäglich spüren. Beim Einkauf am Schulkiosk, im Drogeriemarkt, wenn sie Lust auf neue Klamotten haben. Dass die hohen Preise mit dem Ukrainekrieg und der Energiekrise zusammenhängen, wissen sie bereits. Genauso, dass Inflation vor allem ärmere Menschen trifft. "Aber auch Leute, die ganz normal verdienen", sagt Maya. Diskutiert wurde auch, ob reiche Menschen was von ihrem Geld abgeben sollten. Darüber würden sie gerne mit jemandem aus der Politik reden. "Das wäre cool", befindet Phoebe.

Hohe Preise spielen auch bei Hussein und seinen zwei Gruppenkolleg:innen eine Rolle: Obwohl Zigaretten so teuer sind und auch schädlich, rauchen viele Menschen – auch Jugendliche. Für die drei Achtklässler:innen unverständlich. Die Idee, sich mit dem Thema zu beschäftigen, kam ihnen, weil sie Fünft- und Sechstklässler auf der Toilette beim Rauchen erwischt haben. Das fanden sie ziemlich doof, doch was sollten sie in so einer Situation machen? "Wegnehmen, hauen und Angst machen", sind einige Vorschläge – etwas kurzfristig gedacht. Vielleicht zuerst mal überlegen: Warum rauchen sie überhaupt? "Weil sie cool sein wollen", "Weil die Eltern zu Hause rauchen", "Weil sie vom Freundeskreis dazu gedrängt werden". Und wieso ist das schlecht? Wie kann man längerfristig dagegen vorgehen? All das versuchen die Schüler:innen nun in einen Kommentar zu verpacken.

Bei einer weiteren Gruppe dreht sich alles ums Thema Drogen – nicht um Nikotin, sondern um Gras. Sie kennen aus dem persönlichen Umfeld Menschen, die kiffen, wollen aber hören, was Expert:innen dazu sagen. Lange haben die Vier diskutiert, bis feststand: Sie werden ein Interview mit einer oder einem Drogenberater:in machen. Nun heißt es, das tun, was Journalist:innen an diesem Punkt auch tun würden: recherchieren, Daten und Fakten sammeln – etwa wie viele Jugendliche in Deutschland Gras rauchen –, spannende Fragen überlegen. Und natürlich den geeigneten Interviewpartner finden, eine Anfrage stellen und auf positive Rückmeldung hoffen.

Ist das noch Schule oder schon Gefängnis?

Im Klassenzimmer sitzt an zwei zusammengeschobenen Schulbänken eine Vierergruppe mit Kontext-Redakteur Oliver Stenzel. In einem sind sich Artur, Pavlos, Max und eine weitere Schülerin einig: Sie wollen über Diskriminierung schreiben – mit Fokus auf Menschen mit Behinderung. Ein sensibles und sehr vielschichtiges Thema. Es wird gegoogelt, was das Zeug hält: Welche Arten von Behinderungen gibt es überhaupt? Zählt Autismus als Behinderung? Wie behindertenfreundlich ist eigentlich die Bismarckschule?

Während die fünf rauchenden Köpfe nach dem richtigen Dreh suchen, sitzt am Nebentisch stillschweigend der große Manga-Fan Igor. Er hatte die Idee, zu Ehren des vor zwei Jahren verstorbenen japanischen Manga-Zeichners Kentarō Miura für Kontext einen Nachruf zu schreiben. Ganz ohne Stuttgart- oder Baden-Württemberg-Bezug – über den Kesselrand eben. So viel Bewunderung fördert den Tatendrang: Igor, der bald umzieht und deshalb zum letzten Mal beim Projekt dabei war, hat sich fleißig in die veröffentlichten deutschsprachigen Nachrufe eingelesen und bereits mit seiner eigenen Fassung begonnen.

Weniger Bewunderung haben drei Schüler für die Klimaaktivist:innen der Letzten Generation übrig. Sie sind überzeugt, sich auf der Straße festzukleben "bringt überhaupt nichts". Ob die Schüler denn wüssten, was mit der Erde passiert, sollte sie sich um vier Grad erwärmen? Nicht wirklich. Also, erster Schritt: Recherche. Schnell ist ihnen klar, cool ist der Klimawandel nicht, doch Festkleben ist und bleibt für sie keine Lösung. "Wird denen nicht langweilig?", "Essen die Fleisch?", "Ist der Kleber nicht auch umweltschädlich?", wüssten die Drei gerne. Eine gute Ausgangslage für ein Interview mit einem Mitglied der Letzten Generation – die Jungs wollen kritische Fragen stellen und sich nicht mit jeder Antwort sofort zufriedengeben.

Zehn Minuten vor Stundenschluss wird es in der Klasse wieder unruhig. Die Vorfreude auf die nahende Mittagspause ist förmlich spürbar. Die werden die Schüler:innen der 8b wohl oder übel auf dem Schulgelände verbringen, denn erst ab der neunten Schulstufe dürfen sie mit Einverständnis ihrer Eltern in der Mittagspause losziehen, etwa um sich beim naheliegenden Dönerladen einen Yufka zu holen. Das nervt, finden Musa, David, Fatih und Sadik. Deshalb haben sie sich dazu entschieden, einen feurigen Kommentar darüber zu schreiben. Ihre Forderung: Auch Achtklässler:innen sollten das Schulgelände verlassen dürfen. Ihre These: Wenn sie drinnen bleiben müssen, ist das ja wie in einem Gefängnis.

Als die Glocke schließlich die wohlverdiente Mittagspause verkündet, verlassen alle schnurstracks das Klassenzimmer. Zurückbleiben lediglich die Kontext-Gäste und Lehrerin Kurrle. In der kurzen Besprechung über den Zwischenstand wird schnell klar: Vier von den insgesamt sieben Einheiten sind nun rum, doch von vollständig veröffentlichbaren Texten sind alle noch ein gutes Stück entfernt. Das zeigt – und das haben die Schüler:innen der 8b bereits gelernt –, gute journalistische Arbeit braucht Zeit.


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