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Déjà-vu an der Isar

Déjà-vu an der Isar
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In München steht ein Hofbräuhaus. Und auch der Plan, die Innenstadt für eine zweite S-Bahn-Strecke zu untertunneln. Wegen explodierender Kosten und fehlender Genehmigungen aber immer mehr in den Sternen. Bahn, Freistaat und Stadt halten bislang an dem Milliardenprojekt fest. Dabei gibt es wesentlich einfachere und günstigere Alternativen. Ähnlichkeiten mit Stuttgart 21 sind mehr als zufällig.

Steigende Preise, die einen Risikopuffer von rund einer halben Milliarde Euro paralysieren und den entscheidenden Kostendeckel wegsprengen. Wichtige Baugenehmigungen, die Jahre länger als vorgesehen auf sich warten lassen. Versprochene Bau- und Fertigstellungstermine, die immer wieder weiter in die Zukunft verschoben werden. Und regelmäßige politische Scharmützel über Sinn und Unsinn des gigantischen Vorhabens. Derartige Pleiten und Pannen gehören zum geplanten Tiefbahnhof Stuttgart 21 wie das Amen in Kirche.

Unangenehme Überraschungen auf dem langen Weg zum prestigeträchtigen Jahrhundertprojekt gibt es nicht nur in der Schwabenmetropole. Rund 200 Kilometer südöstlich von Stuttgart lässt sich Ähnliches bei einem weiteren Megaprojekt der Bahn beobachten: beim geplanten Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke in der bayerischen Landeshauptstadt München. Die zehn Kilometer lange Neubautrasse, größtenteils in Tunnelröhren unter der Innenstadt zu bohren, soll die bestehende S-Bahn-Achse durch die City entlasten. Ähnlich wie in Stuttgart wird auch dort die "Zukunftsfähigkeit" von Stadt, Region und Freistaat mit dem milliardenschweren Tunnelprojekt verknüpft, das in bis zu 40 Meter Tiefe unter der Innenstadt gegraben werden soll – auch wenn die Vernunft längst nach anderen Lösungen verlangt.

Die Parallelen zwischen den Jahrhundertprojekten sind frappierend. Auch an der Isar gibt es laufende Kostensteigerungen, die den "Gesamtwerteumfang" des Projekts inzwischen deutlich über die anfangs genannten 1,5 Milliarden Euro katapultierten. Wie hier zirkulieren auch dort höhere Beträge erst im Geheimen, bevor sie meist von den Medien öffentlich gemacht werden. Stets zunächst bestritten von den Verantwortlichen. Vor wenigen Tagen erst zitierte die "Süddeutsche Zeitung" aus bahninternen Unterlagen, wonach der im April 2011 zwischen Freistaat und Bahn vertraglich vereinbarte Finanzierungsrahmen von 2,5 Milliarden Euro inklusive eines 500-Millionen-Euro-Risikotopfs für die knapp zehn Kilometer lange Tunneltrasse inzwischen überschritten ist.

Auch Münchner Kostendeckel offenbar gesprengt

Mittlerweile soll der Staatskonzern mit annähernd 2,6 Milliarden Euro für die neue S-Bahn-Trasse kalkulieren. Offiziell ist bisher immer noch von zwei Milliarden Euro Baukosten die Rede. Unabhängige Büros wie etwa die Münchner Verkehrsplaner Vieregg und Rössler, die auch bei Stuttgart 21 früh und treffsicher massive Kostenexplosionen prognostiziert hatten, sehen die tatsächlichen Kosten des zusätzlichen S-Bahn-Tunnels schon heute noch höher: Auf mindestens vier Milliarden Euro schätzen sie den Preis, der letztendlich von Bahnkunden und Steuerzahlern zu berappen ist.

Zweite Gemeinsamkeit: Wie in Stuttgart hinken auch an der Isar Planer und Bauherren den einstigen Terminplänen mittlerweile um Jahre hinterher. Ursprünglich wollten die Münchner das Projekt im Jahr 2010 in Betrieb nehmen. Bei Unterzeichnung der Finanzierungsverträge im April 2011 war dann von einer Fertigstellung 2017 die Rede, um rechtzeitig zu den Olympischen Winterspielen 2018 mehr S-Bahn-Verkehr auf die Schienen zu bringen. Der ambitionierte Zeitplan konnte vergangenes Jahr ad acta legen, nachdem die Olympiabewerbung in einem Bürgerentscheid gekippt worden war. Aktuell wird von einem Baubeginn 2015 ausgegangen, intern rechnet die Bahn laut SZ inzwischen mit einer Fertigstellung nicht vor 2022.

Auch bei den Genehmigungen durch das Eisenbahnbundesamt gibt es — wie in der Schwabenmetropole — unliebsame Verzögerungen. Erst eine Baugenehmigung liegt mit dem Planfeststellungsbeschluss für den Abschnitt 2 vor, der sich in der Münchner Innenstadt zwischen Hauptbahnhof und Isar erstreckt. Wann die Verfahren für die beiden anderen "PfAs" abgeschlossen sind, kann niemand sagen. An richtig Losbauen war deshalb bislang kaum zu denken. Erste bauvorbereitende Arbeiten fanden dennoch vor rund einem Jahr statt. Es waren genauer gesagt archäologische Grabungen auf einem Stammstrecken-Baufeld, auf dem Marienhof hinter dem Münchner Rathaus. 

Auch die Jubelarien klingen verblüffend gleich

Für Stuttgart-21-Beobachter sind nicht nur die finanziellen und zeitlichen Parallelen, wie sie beim Münchner Tunnelprojekt zutage treten, auffällig. Geradezu ein Déjà-vu erleben Kenner der schwäbischen Prestigeprojekt-Historie, sobald sie die Aussagen der Münchner Tunnelprotagonisten vernehmen. Bisweilen gleichen Versprechen und Eingeständnisse der dortigen Projektpartner – Deutsche Bahn, Bund, Freistaat Bayern und Landeshauptstadt München – bis auf Punkt und Komma den Absichtserklärungen und Widerrufen, die im Laufe des mühsamen Projektfortschritts bei Stuttgart 21 schon verbreitet wurden.

So etwa bei Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags im April 2011. "Es ist für München wichtig, aber es hat natürlich auch Bedeutung weit, weit über München und die gesamte Region hinaus", bewertete der damalige bayerische Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) überschwänglich das Projekt. "Ein großer Tag für München", jubelte der scheidende Münchner OB Christian Ude damals. "Die zweite Stammstrecke ist aus Sicht der S-Bahn, aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger Münchens wichtig", machte auch Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer gute Stimmung. Wie in Stuttgart, wo S-21-Projektkritiker vergeblich die Ertüchtigung des bestehenden Kopfbahnhofs als einfachere und günstigere Lösung propagieren, sieht Kefer auch in München keine Alternativen zum teuren Tunnelbau. "Wir haben sämtliche technisch zur Verfügung stehende Mittel gezogen, um die Auslastung der Strecken komplett zu machen. Es geht einfach nicht mehr", beteuerte er damals.

Bahnsteigtüren für einen Bruchteil der Tunnelkosten

In München verweisen Kritiker der Tunnelpläne schon seit Jahren auf einen kostengünstigeren Ausbau des S-Bahn-Südrings als Alternative hin. Doch in mehreren Gutachten und auch in allen politischen Gremien wurde diese Variante immer wieder verworfen. Von Stuttgart 21 weiß man jedoch, dass Gutachter und Politiker mitunter zu fragwürdigen Ergebnissen kommen können. Bislang außen vor in der Diskussion bleibt, dass sich die geplante zweite Münchner Stammstrecke nach der neuerlichen Kostensteigerung gar nicht mehr volkswirtschaftlich rechnet. Wie bei Stuttgart 21, wo im Dezember 2012 Kostensteigerungen von 4,3 auf bis zu 6,8 Milliarden Euro bekannt wurden, dürfte die jüngste Münchner Kostenexplosion den Kosten-Nutzen-Faktor des Projekts unter eins gedrückt haben. Nach dem Haushaltsrecht dürfen Bund und Land die zweite Stammstrecke damit nicht mehr fördern.

Auch ist an den Aussagen von Bahnvorstand Kefer zu zweifeln, wonach die bestehende S-Bahn-Strecke tatsächlich an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt ist. Nach Kontext-Recherchen würde der Einbau von speziellen, flexiblen Bahnsteigtüren in den Stationen der Stammstrecke die Haltezeiten der S-Bahnen deutlich verkürzen. Zusammen mit zusätzlichen elektronischen Passagierleitsystemen in Zügen und auf Bahnsteigen ließe sich die Kapazität der bestehenden Trasse dadurch auf bis zu 40 Zügen pro Stunde steigern. Das heutige Limit der Stammstrecke liegt bei 30 S-Bahnen in der Stunde.

Diese Art der Ertüchtigung käme die Projektbeteiligten zudem wesentlich günstiger als die geplante zusätzliche Tunneltrasse. Die Umrüstung der bestehenden acht S-Bahn-Stationen auf der Stammstrecke mit Bahnsteigtüren würde nur rund vier Millionen Euro pro Haltestation kosten, so eine Kostenschätzung eines Fachmanns.

Dennoch halten alle Projektbeteiligten an dem Tunnelbau zu München bislang fest. Die schlechten Erfahrungen beim Großprojekt Stuttgart 21 scheinen sich jedoch bis München herumgesprochen haben. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) warnte jedenfalls nach den jüngsten Hiobsbotschaften davor, dass das Großprojekt zu einem "Finanzgrab" wird. "Ich will die Stammstrecke. Sie ist notwendig", sagte Seehofer der SZ. "Aber wir können sie nicht um jeden Preis bauen." Ein Ausstieg bei ausufernden Kosten gehöre zu den "Reaktionsmöglichkeiten", die man sich vorbehalten habe, erklärte der Ministerpräsident dem Blatt.

Ein Abschied von den Tunnelplänen käme der Deutschen Bahn womöglich gar nicht unrecht. Kämpft der Staatskonzern doch bei Stuttgart 21 mit den dortigen Projektpartnern noch um die Aufteilung der zwei Milliarden Euro Mehrkosten. Im ungünstigsten Fall muss der Konzern sämtliche weiteren Preissteigerungen beim Stuttgarter Tiefbahnhofprojekt selbst schultern. Noch eine Großbaustelle, die sich als Fass ohne Boden erweist und weitere Milliarden verschlingt, kann sich nicht einmal der Weltkonzern Deutsche Bahn leisten.


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9 Kommentare verfügbar

  • politisch interessierter Architekt
    am 13.04.2014
    Antworten
    Sehr geehrter Markus,
    niemand spricht hier von einer "höchsten dataillierten Präzision" für Kosten und Aufwendungen. Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten geht es in solchen Diskussionen/Großprojekten heutzutage darum, dass Geld von unten (also vom Steuerzahler weg) nach "oben" in wenige…
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