KONTEXT:Wochenzeitung
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In Kooperation mit Theater Stuttgart

Superkräfte ohne Schutzschild

In Kooperation mit Theater Stuttgart: Superkräfte ohne Schutzschild
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Das Stuttgarter Theaterkollektiv Lokstoff! macht seit 22 Jahren erfolgreich Theater im öffentlichen Raum. In seinem aktuellen Projekt "Nachtschicht. Eine Reise durch die Stadt" geht es vor allem um Held:innen des Alltags – im Bus und durch Stuttgart.

Neue Partnerschaft

Theater lebt vom Diskurs – auf der Bühne, im Publikum und in der Öffentlichkeit. Mit der neuen Kooperation zwischen Theater Stuttgart und Kontext:Wochenzeitung wird dieser Dialog künftig um eine spannende Facette erweitert. Theaterkritiker:innen von Kontext besuchen künftig Premieren an den Stuttgarter Bühnen, veröffentlicht werden die Kritiken in Kontext und auf der Plattform Theater Stuttgart. Die Entscheidung, welche Premieren besucht und rezensiert werden, trifft Kontext als unabhängige Zeitung autonom.

Damit reagieren beide Partner auf eine seit Jahren laufende Entwicklung: In vielen großen Tageszeitungen wird der Platz für Theaterkritik immer kleiner, Premierenberichte verschwinden aus den Feuilletons, und die Vielfalt des Stuttgarter Theaterlebens findet dort kaum noch Resonanz. Es ist eine Lücke entstanden – in der öffentlichen Wahrnehmung wie im kulturpolitischen Diskurs. Theater Stuttgart und Kontext möchten die künstlerische Arbeit der Stuttgarter Bühnen sichtbarer machen und sie mit journalistischer Qualität begleiten. So entsteht ein neuer Resonanzraum, in dem Theater nicht nur gespielt, sondern auch reflektiert, eingeordnet und diskutiert wird. Denn Theater ist niemals Selbstzweck, sondern immer auch gesellschaftliches Ereignis.  (lee)

Mit dem Bus gemütlich durch die Nacht zu fahren, öffnet die Augen. Zumindest, wenn man mit Lokstoff! unterwegs ist. Die Stadt wird zur Bühne, die stillen Passagier:innen zu Voyeur:innen. Plötzlich sieht man in erleuchteten Fenstern die Menschen dahinter. Ob Gruppen von Jugendlichen, ob bunt blinkender Wasen, ob menschenleere Orte: Es liegt über allem Leuchten auch ein bisschen Melancholie. So offenbart sich halt die Seele einer Großstadt des Nachts: immer auch ein bisschen wehmütig.

Das Stuttgarter Theaterkollektiv, gegründet und geleitet von den beiden Schauspieler:innen Kathrin Hildebrand und Wilhelm Schneck, macht seit 2003 erfolgreich Theater. Es braucht kein festes Haus für seine gesellschaftskritischen, oft auch politischen Projekte. Seine Bühne ist der öffentliche Raum: ob U-Bahnhöfe, Schwimmbäder, Möbelhausfenster, Container, Eingangshallen, Parkhäuser – oder eben auch öffentliche Verkehrsmittel. Wie in der neuesten Lokstoff!-Produktion "Nachtschicht", die jetzt in der Regie von Bianca Künzel Premiere hatte. Darin geht es nicht um Besuche von Betrieben, in denen nachts noch gearbeitet wird, wie man vielleicht erwarten würde. Sondern während der "Reise durch die Stadt" steigen Menschen zu, die über ihr Leben und ihre Arbeit berichten. Es geht um "Held:innen" des Alltags, genauer: um jene, die nie im Rampenlicht stehen, deren Arbeit aber unsere Stadt am Leben hält, sie antreibt und bewegt. Es geht aber auch um Klischee-Helden: um Batman und Herkules, also um die schlaue, technisch versierte, gut trainierte Comicfigur und den Muskelmann-Zeussohn mit den Superkräften.

"Kann ich Foto machen, Digga?"

Am Beginn der zweistündigen Fahrt, als der Bus noch an der Haltestelle Schlossplatz steht, schauen die Passagier:innen Batman und Herkules zu, wie sie draußen für Aufmerksamkeit sorgen – verhaltensoriginell und in hippen Kostümen (von Maria Martínez Peña). Batman (Sebastian Schäfer), mit Fledermausmaske und -Cape, haut in die Tasten seines Keyboards, und Herkules (Wilhelm Schneck), in Brustpanzeroutfit, quatscht Vorbeilaufende an. Opfer sind schnell gefunden: ein Pärchen, das ein Wer-ist-was-Helden-Quiz mitmachen muss. Über Kopfhörer alles mitverfolgend, starren 60 Augenpaare auf die beiden, die nicht wissen, was hinter ihnen vorgeht. Der Bus ist verdunkelt. Dass da 120 blaue Kopfhörerlichter spooky leuchten, merken sie erst, als sie das Quiz beendet haben und fragen, was das eigentlich alles soll. Gleich danach tanzt ein junger Mann heran, fragt die beiden Kostümierten: "Hey Digga, kann ich Foto machen?", quetscht sich zwischen beide, macht Selfies und hüpft freudig erregt von dannen, das Handy wie eine Trophäe zeigend.

Die 60 Augenpaare, die ihm folgen, bemerkt er gar nicht. Das ist immer das Überraschende in Lokstoff!-Produktionen, die Vermischung von Realität und Theater. Verdutzte Menschen stolpern, huschen, humpeln durchs Inszenierte. Nur Einzelne bleiben stehen. Die meisten gehen weiter, schauen sich irritiert um oder tun so, als sei hier alles völlig normal. Bloß schnell raus aus dieser befremdlichen Situation, in die man unfreiwillig gerät. Zur Schadenfreude der Zuschauenden.

So zuckelt der Bus durch Stuttgart und Umgebung, von Ampel zu Ampel und ein bisschen schneller die B10 entlang. Wenn er hält, sind die zwei Superhelden schon da: Etwa an der grauen Schwelle eines Hochhauses, von dem sich der Original-Batman ja gerne mal hinunterstürzt, machen sie gymnastische Übungen, parlieren in Comicsprech ("Seufz, ächz, stöhn") und über ihre Zipperlein – Herkules hat Rücken, Batman Panikattacken und eine Menge "Phantomschmerzen". Sie gehen halt aufs Rentenalter zu. Am düsteren, menschenleeren Neckarhafen, wo die Arbeiter:innen längst Feierabend haben, übt Herkules Golfen und duettiert mit Batman: "Jede Zeit hat ihre Helden, jeder Held hat seine Zeit, um mit der Zeit zu gehen." Oder: "Wir waren die Guten, zumindest gegen die Bösen." Die beiden sind müde. Heute würde er was anderes machen, sagt Herkules, Künstler werden, Bob Dylan oder Tom Waits oder so. An einer Tanke beenden sie ihr Heldentum. "Wir gehören uns nicht." Ohne Kostüm seien sie nackt. "Sei du selbst." Batman bricht den Start zum Abflug ab, beide entledigen sich ihrer Kostüme und verziehen sich in Richtung Kentucky Fried Chicken.

Der Lkw-Fahrer hat für Helden keine Zeit

Die "Reiseleiterin" spielt Kathrin Hildebrand, sie läuft während der Fahrt den Mittelgang hin und her. Conférencière, Moderatorin, Sängerin, Darstellerin zugleich, ist sie für den poetischen Teil des Abends zuständig, rezitiert schöne Verse als Hommage an die Großstadt (Texte: Alexander Steindorf), erzählt von den "Räumen dazwischen", in die man hineinhören solle, die Platz böten für neue Geschichten. Die Stadt sei ein "Buch", ein "funkelndes Wimmelbild". Und sie befragt Zuschauer:innen nach ihren Held:innen der Kindheit: Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf, Pumuckl, Alfred E. Neumann, Jim Knopf.

Hildebrand klopft auf einem dunklen Lkw-Parkplatz auch einen Fahrer aus dem Schlaf, der dort Pause macht: "Wo kommst du her?" "Aus Basel." "Wo musst du hin?" "Nach Karlsruhe." "Wer sind deine Helden der Gegenwart?" Für Helden habe er keine Zeit. Zu viel zu tun. Vielleicht die Menschen, die bei Unfällen auf der Autobahn zur Hilfe kommen, ergänzt er, ja, das seien Helden.

Yolanda steigt zu, 38, Barkeeperin, die in Kürze nach Italien auswandert, ins Haus ihrer gestorbenen Großmutter – ihrer persönlichen Heldin. Yolanda hat durch ihre Stammzellenspende einer Frau in Chile, ihrem genetischen Zwilling, das Leben gerettet. Welche Superkraft würde sie sich wünschen? "Fliegen!"

"So viel ist möglich, wenn wir uns bewegen", singt Hildebrand. Der Bus hält am Klinikum Stuttgart. Kathi Wolf, 42, Gesundheits- und Krankenpflegerin, stellvertretende Leiterin der Intensivstation, getrennt erziehend, steigt zu. Überraschend: Nach dem Abi hat sie erst einmal eine Schauspielausbildung absolviert und danach Theatererfahrungen gesammelt. Sie erzählt vom stressigen Alltag im Krankenhaus, von den emotionalen Ausnahmesituationen, die sich auf einer Intensivstation abspielen, und die sie oft mit nach Hause nehme. Dort entspanne sie sich beim Stricken. Je nach Zustand des Gestrickten (oft "bockelhart") wisse sie am nächsten Morgen, wie sehr sie ein Schicksal mitgenommen habe. Sie liebe ihre Arbeit, die so "interessant" sei. "Ich darf jeden Tag lernen." Das Team sei toll, das Krankenhaus ein Gebilde wie ein "Ameisenstaat", das nur funktioniere, weil so viele Menschen engagiert mitarbeiten – jeder als Rädchen im Getriebe. Die Reinigungskräfte etwa, die die Zimmer säubern, bevor neue Patient:innen aufgenommen werden können, oder die Materialbeschaffer:innen. Welche Superkraft würde Kathi gerne besitzen? "Geduld!"

Zohra will Frauen stark machen

Und dann Zohra, 36, die mit 23 mit ihrer kleinen Schwester aus Afghanistan nach Deutschland geflohen ist. Als Zohra sieben Jahre alt war, wurde ihr der weitere Schulbesuch von den Taliban verboten. Ihr Vater (ihr Held) brachte ihr das Lesen und Schreiben bei sowie eine Nachbarin, die Lehrerin war und heimlich Mädchen unterrichtete, so wie Zohra ab zehn heimlich als Frisörin arbeitete – bis zu ihrer Flucht im Jahr 2013. Die erste Zeit in Deutschland sei sehr hart gewesen: Nicht mehr schulpflichtig habe sie keinen Anspruch auf eine Schulausbildung gehabt. Sie schlug sich ohne Deutschkenntnisse mit Minijobs und Praktika durch. Dann die ersehnten Deutschkurse und nach ihrem B1-Zertifikat endlich die erträumte Ausbildung zur staatlich anerkannten Kosmetikerin. Heute hat Zohra in Stuttgart-Hedelfingen einen eigenen Kosmetiksalon. Sie wolle Frauen stark machen durch Schönheit, lacht sie. Dass ihre sechsjährige Tochter jetzt in Freiheit aufwachse und zur Schule gehen dürfe, mache sie unglaublich glücklich. Welche Superkraft besäße sie gerne? Die Fähigkeit, die Frauen in Afghanistan zu befreien.

Am Ende dieser urban-poetischen, inspirierenden Rundreise ist es vermutlich die Geschichte der willensstarken Zohra, die besonders in Erinnerung bleiben wird. Zohra, die ihren Traum von Freiheit gegen alle Widerstände verwirklicht hat und die das Grundrecht auf Freiheit so hochhält und feiert. Etwas, das derzeit weltweit bedroht scheint. Die Frage nach etwaigen "Held:innen" erübrigt sich. Sind diese nicht einfach Märchenfiguren? Es sind die Menschen, die Haltung zeigen und tätig werden, die unsere Gesellschaft voranbringen. Sie sind schlichtweg Vorbilder. So wie Zohra eben.


Lokstoff!s "Nachtschicht. Eine Reise durch die Stadt" startet an der Bushaltestelle Schlossplatz in Stuttgart-Mitte und dauert ca. zwei Stunden. Ein Ticket kostet 29,50 Euro, ermäßigt 16 Euro. Die insgesamt vier Termine im Oktober und November sind bereits ausverkauft, 2026 soll es weitere geben.

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