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Doku "Leonie und der Weg nach oben"

"Bisch wieder hinter mir her!"

Doku "Leonie und der Weg nach oben": "Bisch wieder hinter mir her!"
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Wenn die Tochter über die Mutter einen Film dreht, ist die Gefahr groß, dass es ein Fall fürs Familienalbum wird. Nicht so, wenn die Tochter Dokumentarfilmerin ist und Sigrid Klausmann heißt.

Da sind sogar Kinoprofis angefasst. "Ich habe nicht nur einmal geweint heute im Kino, sondern mehrmals. Das hat mich sehr berührt, weil dieser Film es schafft, ein sehr privater Film zu sein und auf der anderen Seite eine ganz allgemeine, universelle Aussage zu haben. Und er ist auch ein sehr schöner Film. Der muss ins Kino, ganz einfach." So Dieter Kosslick, der frühere Leiter der Berlinale, über den Film "Leonie und der Weg nach oben" von Sigrid Klausmann. Er hatte ihn bei seiner Weltpremiere auf den Biberacher Filmfestspielen 2020 gesehen.

Die Stuttgarter Regisseurin drehte über vier Jahre hinweg Gespräche, die sie mit ihrer Mutter Leonie während ihrer zahlreichen Besuche in Furtwangen führte. "Bisch wieder hinter mir her", kommentierte die Mutter die Dreharbeiten. Aus den vielen Stunden Material, die dabei entstanden, schnitten Sigrid Klausmann und Editor Gregory Schuchmann einen Film, der ursprünglich nur für die Familie gedacht war. Freundinnen ermutigten sie, den Film auch öffentlich vorzuführen. Und das war richtig.

Geboren wurde Leonie Scherzinger in Gütenbach, einem kleinen Schwarzwalddorf in der Nähe von Furtwangen. Sie wird mit drei Geschwistern und vielen Cousinen und Cousins groß. Als schön und umsorgt beschreibt sie ihre Kindheit. 1933, dem Jahr von Hitlers Machtergreifung, kommt sie in die Schule. "Die haben uns dann geformt mit dem, was sie im Kopf hatten." Sie war "mit Leib und Seele" dabei, weil sie jung war und noch nicht begriff, was hinter dem Nazi-System steckte. "Das haben auch viele Erwachsene nicht kapiert." Daheim wurde wenig über Politik gesprochen. "Wehe, wenn man sich gewehrt hätte. Da waren überall Spitzel." Die SA hatte überall ihre Ohren. "Wer dagegen war, ist sofort verschwunden." 1941, die Schulzeit war zu Ende, arbeitet Leonie in einem Kindergarten. Dann muss sie zum Arbeitsdienst nach Bad Waldsee. Kurz vor Kriegsende kommt Leonie mit dem letzten Zug, der vom brennenden Donaueschingen nach Furtwangen fährt, wieder nach Hause. Das Leben der Leonie Klausmann ist auch ein Stück Zeitgeschichte.

Beginn einer Liebesgeschichte in Briefen

Auf einer Tanzveranstaltung lernt sie Ende April 1946 die Liebe ihres Lebens kennen. Benedikt Klausmann macht sofort Eindruck, nicht nur weil er ein guter Tänzer ist. Schon zwei Tage später, zum Maitanz, treffen sie sich wieder. Es war der Beginn einer großen Liebe, die im ersten Jahr vor allem in Briefen wuchs. Es waren Hungerjahre und Leonie arbeitete auf einem Bauernhof in Oberschwaben. Die beiden schrieben sich viel. Leider sind nur die Briefe erhalten, die Leonie ihrem Benedikt schrieb. Seine hat sie verbrannt, sie sollten nicht in die Hände der Bauernfamilie fallen. Deren Sohn hatte wohl ein Auge auf sie geworfen und Leonie wollte das Geheimnis um ihren fernen Freund für sich behalten.

Das erzählt Sigrid Klausmann beim Gespräch in ihrer Wohnung. Es sind bewegende, fast schüchterne Briefe, die Leonie ihrem "Schwarzwaldbuben" schreibt. "Als ich Deine Zeilen las, musste ich die Tränen schlucken, denn all das Vergangene, Schöne, stieg wieder in mir empor und das Heimweh und die Sehnsucht nach meinem lieben Menschen packte mich. Sei Du, lieber Beni, innigst gegrüßt von Deiner Leonie."

Doch das Leben der Leonie Klausmann war mehr als eine außergewöhnliche Liebesgeschichte. Der Dokumentarfilm Leonie und der Weg nach oben zeigt, dass ein gelungenes Leben nicht von Äußerlichkeiten oder Moden abhängt. Zeigt auch, wie viel wichtiger Solidarität mit den Mitmenschen ist, das Zutrauen in die Kraft der eigenen Kinder und die Toleranz auch in der Liebe.

Nach der Hochzeit zog Leonie zu Mann und Schwiegereltern nach Furtwangen. Es waren harte Jahre. Ihrer Schwiegermutter, einer dominanten Frau, konnte sie nur wenig recht machen. Das entbehrungsreiche Leben hatte die Frau streng gemacht. In der Küche gab es kein fließendes Wasser, ein Ofen für das ganze Haus musste genügen. Im Film erinnert sich Leonie an diese ersten gemeinsamen Jahre. Ihren Benedikt hätte sie immer wieder genommen, aber nochmals zu den Schwiegereltern ziehen, das würde sie wohl nicht mehr machen. Auch Armut und Verzicht gehörten zu diesem Leben, dem Leben einer starken Frau.

In der Küche musste sie jetzt alleine tanzen

Besonders berührend ist der Film, wenn Leonie über ihre große Liebe spricht. Sie tanzten und musizierten für ihr Leben gern. Leonie erinnert sich an die Lieder, die sie einst gemeinsam sangen, an den Tango "Wenn zwei Herzen in Liebe sich gefunden" oder an "Ännchen von Tharau", Letzteres im Film interpretiert von Sigrid Klausmanns Tochter Lea-Maria Sittler. 2011 starb Benedikt Klausmann nach 64 gemeinsamen Jahren. Jahr für Jahr, Tag für Tag ging Leonie von ihrem Haus einen Hügel hinauf zu einer Kehre, von der sie zu seinem Grab sehen konnte. Und immer hatte sie ihm etwas zu sagen. In der Küche musste sie jetzt allein tanzen. Und beim Backgammon baut sie vor seinem Bild das alte "Brettle" auf und würfelt für beide.

Erinnerungen lassen sich nicht erzwingen. Sie brauchen die richtige Situation, um an die Oberfläche zu steigen. Als Sigrid Klausmann ihrer Mutter den fertigen Film zeigte, kamen bei Leonie noch mehr Geschichten auf, die sie ihrer Tochter vor der Kamera nicht erzählt hatte. So war sie während des Kriegs auch in der Nachbarschaft des Bruderhofs in Wutach. Der dortige Bauer versteckte ab 1944 Magdalena und Inge Scholl, Mutter und Schwester von Hans und Sophie Scholl. Leonie sah eine unbekannte Person auf dem Hof und fragte, wer das sei. Das brauchst du nicht zu wissen, war die lapidare Antwort. "Meine Mutter war auch eine der ersten Grünen überhaupt", sagt Klausmann beim Kontext-Gespräch. An dem Desaster um den Stuttgarter Bahnhof nahm sie regen Anteil. "Das mit den Bäumen im Schlossgarten, das ist eine Sünde", so Leonie über den Schwarzen Donnerstag.

Ein Film kann nie alle Geschichten eines langen Lebens erzählen. Doch Sigrid Klausmanns Dokumentarfilm ist das intime Zeugnis eines erfüllten Lebens, das geprägt ist von Werten, die vielen von uns fremd geworden sind. Werten wie Gottvertrauen, Verlässlichkeit, Bescheidenheit, die Liebe zur Natur oder auch der Respekt gegenüber anderen. Ein Fenster in eine Zeit, die sehr fern scheint, in der alles etwas langsamer und bedächtiger lief.

Möglich wurde dies auch, weil Sigrid Klausmann ihr Handwerk beherrscht. Die Dreharbeiten konnten so, gleichsam nebenbei, stattfinden. Beim Kaffeetrinken, beim gemeinsamen Plausch auf dem Sofa oder beim Spazierengehen.

Vor einem Jahr ist Leonie Klausmann mit 95 Jahren gestorben. Mit ihrem Dokumentarfilm hat Sigrid Klausmann ihrer Mutter ein bleibendes Denkmal gesetzt.


Am Sonntag, 27. November um 11.30 Uhr zeigt Sigrid Klausmann ihren Film im Atelier am Bollwerk, Stuttgart.


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