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Verlag Schiler & Mücke, Tübingen

Bilderwelten diktaturfrei übersetzen

Verlag Schiler & Mücke, Tübingen: Bilderwelten diktaturfrei übersetzen
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Schiler & Mücke gehört zu den ganz wenigen Verlagen in Deutschland, die feministische Literatur aus der arabischen Welt übersetzen und herausbringen. Der Zwei-Mann-Verlag wird von Berlin und Tübingen aus geleitet, der Mann in Tübingen ist Hans Schiler. Einer, der das Besondere sucht.

"Fremd als Deutschsprache" heißt es in einem dadaistischen Gedicht aus Tibor Schneiders Buch "magnesiumsgeschwindigkeit", das der aus Kroatien stammende Dichter als einer von fünf Autor:innen des Verlages "Schiler & Mücke" in der "Lyrikhandlung am Hölderlinturm" in Tübingen vorliest. Lektor und Veranstalter Michael Raffel stellt Fragen an den Gründer des Verlages Hans Schiler, der seit über 40 Jahren als engagierter, unabhängiger Verleger aktiv ist. Tim Mücke, mit dem er den Verlag 2001 neu gründete, lernte Schiler kennen, als sie einen Stand bei einer Buchmesse teilten. 2010 kam Schiler zurück nach Tübingen, Mücke blieb in Berlin und leitet von dort aus die Hälfte des Verlages.

Neben literarischen Projekten zählen auch wissenschaftliche Publikationen zum Repertoire des Verlages, beispielsweise eine Reihe mit dem Politologen Hans-Joachim Funke, der über die Entstehung und Bedeutung rechter Freiräume geschrieben hat und in drei NSU-Untersuchungsausschüssen als Sachverständiger sprach.

Schiler studierte in Tübingen zunächst "ein bisschen orientierungslos" Jura und Volkswirtschaft, nahm in der Uni-Stadt an der Besetzung des Epplehauses teil. Schließlich begann er das Studium der Orientalistik und wechselte 1973 nach Berlin. Als "anerkannter Kriegsdienstverweigerer" sei er dorthin, "nicht wie viele vorm Bund geflohen", doch die Orientalistik sei dort mehr "auf die moderne Zeit ausgerichtet" gewesen als in Tübingen. Zusätzlich studierte er in Berlin Entwicklungssoziologie mit "Schwerpunkt auf die 'Dritte Welt'", wie es damals hieß.

Mit Studienkollege Eler Martin ging er im Rahmen seines Entwicklungssoziologie-Studiums auf eine Feldforschung nach Westafrika, erzählt Hans Schiler im Kontext-Gespräch: "Da sollte man untersuchen, warum in der Baumwollwirtschaft immer die Arbeiter türmen. Das war relativ einfach: Weil sie schlecht bezahlt waren und fürchterliche Bedingungen hatten." Diese Art von Forschung wollte er ungerne machen, sagt Schiler. Aus Ernüchterung und einer gewissen Ratlosigkeit wuchs unter den beiden Kommilitonen die Idee für ein eigenes Projekt: "Dann haben wir gesagt, okay, es braucht eigentlich in Berlin eine arabische Buchhandlung – und haben eine gegründet." So entstand 1977 die erste arabische Buchhandlung in Deutschland, die nach Paris zugleich die zweite in Europa war: "Das arabische Buch".

"Ein kleiner Verlag kann nur Begrenztes leisten"

Aus der Buchhandlung entstand schnell ein Verlag. Die erste Veröffentlichung war ein Manifest von politischen Gefangenen in Marokko, aus dem Französischen übersetzt, das als Flugschrift herausgegeben wurde. Besonders aus dem Libanon, das laut Schiler in puncto Publikationen "damals das freieste arabische Land, praktisch ohne jede Zensur" war, importierte der Verlag Texte von verschiedenen libanesischen Verlagen. "Das war zum Beispiel auch für arabische Studenten aus Israel wichtig, die sind ansonsten gar nicht an die Texte rangekommen. Und umgekehrt haben wir auch ein ganzes Spektrum israelischer Literatur angeboten."

In Kooperation unter anderem mit dem Berliner Institut der Islamwissenschaft entstanden in dieser Zeit auch zahlreiche Wissenschaftspublikationen. Im literarischen Bereich wurden zunächst Autor:innen herausgebracht, die nicht in Deutschland geboren sind, aber auf Deutsch schreiben. Ein Beispiel dafür ist der Syrer Rafik Schami, der 1971 nach Deutschland kam und sehr schnell sehr berühmt wurde – allerdings nicht bei Schiler. "Ein kleiner Verlag kann nur Begrenztes leisten", sagt der. Wenn die Autoren dann sehr berühmt würden, brauchten sie leistungsstärkere, größere Verlage. "Das verstehe ich zu hundert Prozent." Bis heute sind Schiler und Schami in Kontakt. So hat Schami vergangenes Jahr bei Schiler & Mücke sein Manifest "Gegen die Gleichgültigkeit" herausgegeben. Zudem erscheint bei Schiler&Mücke die Reihe Swallow Editions, die von Rafik Schami gegründet und herausgegeben wird. "Die Reihe ist zensur-, erdöl-, langeweile- und diktaturfrei", wird die Edition beworben: "für Leser der arabischen Literatur in aller Welt." Ein Kriterium der Reihe ist, dass das Werk zuvor in keine andere Sprache übersetzt wurde. "Teilweise liegen sie nicht mal auf Arabisch als Buch vor", so Schiler.

Der nächste Band, der in der Reihe herauskommen wird, ist von der jungen sudanesischen Autorin Sabah Sanhouri, die selbst sehr engagiert in der Demokratiebewegung im Sudan ist. In ihrem Roman geht es um eine arbeitslose Schriftstellerin, die in der Selbstmordagentur "Paradise" einen Job annimmt, wo sie für die Kundschaft maßgeschneiderte Selbstmordszenarien verfassen muss. "Ich weiß, dass Not und Elend in unserem Land sehr groß sind, trotzdem hätte ich nie gedacht, dass jemand kommt und diese Not auf so ekelhafte Weise ausnutzt", schreibt die junge Autorin im Roman.

Feminismus im arabischen Raum

Schreibende Frauen sind ein Schwerpunkt bei Schiler & Mücke. "Von jetzt an führen wir ein Dasein frei von Angst und Bedrohung, vereint mit dem kosmischen Nichts", schreibt Latifa Al Duleimi im Lyrik- und Prosaband "Mit den Augen von Inana", in dem Texte irakischer Autorinnen veröffentlicht sind. Inana ist der Name einer der großen sumerischen Göttinnen. Die Autorinnen-Gruppe wurde vor zehn Jahren von Birgit Svensson mitinitiiert. Svensson ist die einzige deutsche Journalistin, die seit vielen Jahren in Bagdad arbeitet. "Im dortigen Schriftstellerverband waren Schriftstellerinnen gar nicht vertreten und so haben die Frauen angefangen, sich selber zu organisieren", sagt Hans Schiler. Mittlerweile ist die deutsche Übersetzung von zwei Bänden des Projekts bei Schiler & Mücke erschienen.

Ein weiteres feministisches Gedicht-, Kurzprosa- und Essayprojekt kommt aus Tunesien. "Chaml" heißt das Autorinnenkollektiv, von dem 2020 "Ich kann nicht alleine wütend sein" erschienen ist. Chaml bedeutet so viel wie "der Einschluss aller Unterschiedlichkeiten" im Arabischen. "Wir haben beschlossen, den gängigen Klischees über Frauen entgegenzutreten: die ewig Verliebte, Rebellin oder Revolutionärin, Befreite oder Opfer", schreibt Chaml-Autorin Yosra Esseghir. "Wir werden weiterschreiben: vom Nass der Vulva und von Blut. Wir tragen unsere Wörter zur Schau, präsentieren den Leserinnen und Lesern unsere Werke. Wir zerlegen uns in Einzelteile, damit ihr die Frauen sehen, ihnen zuhören könnt."

Das entscheidende Bindeglied

"Die Möglichkeit, dass ein Autor in den anderen Sprachen wahrgenommen werden kann und wie er wahrgenommen wird, hängt von der Qualität der Übersetzung ab", sagt Schiler. In schlechten oder unsauberen Übersetzungen könne ansonsten etwas transportiert werden, was gar nicht der Grundaussage entspricht. Gerade im Arabischen, aber auch im Spanischen sei es schwierig, die originale Bildsprache ins Deutsche zu transferieren. In den Veröffentlichungen des Verlages werden vor allem bei Lyrik die Originaltexte der deutschen Übersetzung oft gegenübergestellt.

Ein "ungeheures Sprachtalent und Glücksfall von Übersetzer" mit dem Schiler zusammenarbeitet sei beispielsweise Hakan Özkan aus der Türkei, der mit Deutsch und Türkisch zweisprachig aufgewachsen ist und darüber hinaus auch mit dem lateinamerikanischen Spanisch und dem Arabischen arbeitet. Özkan war beispielsweise im Sammelband "Ankunft - Literarische Reportagen geflüchteter Autorinnen und Autoren", der 2018 bei Schiler erschienen ist, einer der Übersetzer. "Ankunft" war ein Projekt, um acht geflüchteten Autor:innen "ein Forum zu geben, in dem sie erstmal veröffentlichen können", sagt Schiler.

Schilers Programm war von Anfang an nicht auf die arabische Welt begrenzt, hat sich mittlerweile aber deutlich auf internationale und deutsche Autor:innen ausgeweitet. Im Verlag erscheinen auch Übersetzungen von indigenen Autor:innen wie Inger Mari-Aikio von den Samí, einem indigenen Volk im Norden Fennoskandinaviens, also dem Gebiet auf der nordeuropäischen Halbinsel, das sich aus Finnland und der Skandinavischen Halbinsel sowie Karelien und der Halbinsel Kola zusammensetzt. Oder Gary Thomas Morse von den Kwakwaka'wakw. Die sogenannten "Kwakiutl" sind ein Kreis von indianischen Stämmen im heutigen British Columbia. Auch von der Okzitanierin Aurélia Lassaque wurde ein Werk in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Okzitanisch wird in Teilen Frankreichs, Italiens und Kataloniens gesprochen.

Wie kommt Hans Schiler an solche Autor:innen? Viele lernt er auf dem Literaturfest LeseLenz in Hausach im Schwarzwald kennen: "Eines der interessantesten Literaturfestivals, die wir in Deutschland haben. Das ist immer für riesige Entdeckungen gut." Kurator des 1998 ins Leben gerufenen LeseLenz ist der Heinrich-Böll-Preisträger José F.A. Oliver, der im Schiler-Verlag verschiedene Gedichtbände veröffentlicht hat. Dieses Jahr wird der LeseLenz 25 Jahre alt und findet vom 6. bis zum 16. Juli statt.

Harter Weg für kleine Verlage

"Wir können maximal zehn Bücher im Jahr machen", sagt Schiler. Als kleiner Verlag sei es ökonomisch schwierig, auch weil sich die Konzentration im Buchhandel stetig fortsetzt, immer mehr größere Ketten existieren und diese Ketten vor allem gut Verkäufliches auslegen. In den 1970er- und 1980er-Jahren, als es fast nur kleinere Buchhandlungen gab, seien Neuerscheinungen, auch von kleinen Verlagen, von Buchläden erst einmal bestellt worden, eventuell auch mit Rückgaberecht, und lagen dann ein halbes Jahr aus. So hatten die Kund:innen wenigstens die Chance, in den Buchhandlungen Neues zu entdecken. Heutzutage müssten sie schon wissen, was ihnen die Buchhändlerin bestellen soll.

Auch Corona hat das Geschäft erschwert. "Wir mussten die Produktion zurückfahren, es gab keine Lesungen", so Schiler. Bei Lesungen spiele die Größe eines Verlages zudem eine wesentliche Rolle: "Größere Verlage kommen auch in die großen Buchhandelsketten, wir nicht."

Man brauche also andere Strukturen. "Dazu sind Lesungen und kleine Buchläden, die sich so engagieren wie die Lyrikhandlung, natürlich wahnsinnig wichtig", sagt Schiler. Zudem überlege man, bei der "Interessengruppe unabhängige Verlage" mitzumachen. Dieser Zusammenschluss führt einen gemeinsamen Katalogversand, stärkt Vertriebsstrukturen und hat einen gemeinsamen Stand bei der Frankfurter und Leipziger Buchmesse. Kleine, unabhängige Verlage seien nicht zuletzt auch für Autor:innen wichtig, "die sonst gar keine Chance hätten, ihren Erstling unterzubringen und ihren Weg zu gehen", so Schiler. Kleine Verlage und unbekannte Autor:innen haben in Deutschland eher nicht viel zu lachen.

"Die Menschen lachen und lachen sich tot. Lachen weiter, um zu vergessen, was sie soeben verstanden haben", liest die Autorin Mihaela Claudia Condrat, die in Bilbor in Rumänien geboren wurde, aus ihrem Gedicht "Der Zauberkünstler" vor dem Tübinger Publikum. Vom "Schreiben als Disziplinierung der Bilder" handelt ein Auszug von Andrea Mittags lyrischem Prosatext "Vom Mut", der im Herbst diesen Jahres erscheinen wird. Schreiben als Disziplinierung der Bilder, Übersetzen als Transferieren der Bilder über Sprachgrenzen hinweg – und ein engagierter Verlag als Heimstätte für Bilder aus aller Welt.


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