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Weihnachten mal sportlich

Beine hochlegen. Endlich!

Weihnachten mal sportlich: Beine hochlegen. Endlich!
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Besinnlicher geht's nicht. Unser Kolumnist nimmt dich mit auf einen kleinen Streifzug durch die Welt der großen Sportereignisse. Je zügiger du die Christbäume der Welt lobst, umso schneller darfst du dich im Sofa verkrümeln.

Die postmoderne Weihnachtszeit ist ein wahrer Springbrunnen der sportlichen Freude. Vor allem, wenn du dich aus dem neureichen Pilgerstrom raushältst. Entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen musst du dich nicht im SUV über den Brenner zwingen. Nur um festzustellen, dass auf deiner früheren Lieblingsskipiste Herbstzeitlose und Osterglocken gleichzeitig blühen. 

Du hast an Weihnachten familiäre Verpflichtungen? Dann hilft dir der freundliche Hinweis, dass zwischen alle Jahre wieder und jedes Jahr ein feiner Unterschied besteht. Jetzt nichts gegen entfernte Verwandtschaft. Aber du kannst den rituellen Besuch bei der eigenen Sippschaft im Remstal, in Mecklenburg-Vorpolen oder einem anderen gelobten Land auch mal weglassen. Mach ihn eben alle Jahre wieder. Das sollte reichen. 

Und bitte: Verbrenne keine Kalorien, besser du verbrennst deinen Trainingsplan. Es ist wichtig, keine vorschnellen Vorsätze zu fassen. Zwischen den Jahren ist sowieso kein guter Zeitpunkt fürs Trainingslager. Also auf keinen Fall einen Halbmarathon laufen bei Wind und Wetter – und schon gar nicht auf Strava damit prahlen. Das gehört sich nicht. Außerdem holst du dir einen Schnupfen. Ich muss es so deutlich sagen, auch auf die Gefahr, dass du mir Einmischung in deine privaten Angelegenheiten vorwirfst: Der beste Platz für wahren Weihnachtssport ist dein eigenes Sofa. 

Wie schön: anderen beim Schwitzen zusehen

Jetzt liegst du natürlich nicht auf dem Sofa rum, guckst in die Luft und denkst, hach, ist das schön, so besinnlich war mir selten zumute. Für die grob unsportliche Entspannung sind weitere Wirkstoffe hilfreich: Du brauchst etwas, das dich beschäftigt, aber nicht stresst. Etwas, bei dem du unabkömmlich bist, ohne dich zu beanspruchen. Schließlich ist Erholung wichtig. Also Glotze an, Sport frei! Nichts ist entspannender als faul rumzuliegen und zuzuschauen wie die Anderen schwitzen. Als Sportkolumnenleser:in kannst du vielleicht zugeben: Sportliches Bingewatching ist die reinste Form der Tiefenentspannung. Vorbei die Zeiten, als man den Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern ein paar Tage Weihnachtsruhe gönnte. Gerade zwischen den Jahren lässt sich mit Live-Sport beste Quote machen.

Früher gab's ja nur englischen Fußball und Schanzenspringen. Noch in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts war die Schanzentournee der einzige Sport in der ganzen "Hörzu". Also alternativlos, wenn du Aschenbrödel, Sissi oder den berüchtigten ZDF-Serien mit Tommi Ohrner und Patrick Bach entrinnen wolltest. Heute verbindet man mit Silas keinen Vorabend-Pferdejungen mehr, sondern einen Außenstürmer vom VfB, der eigentlich in die Startaufstellung der Demokratischen Republik Kongo gehört. Aber zum Afrikacup komm ich später. Ich fang mal vorne an, beim Schanzenspringen.

Staunende Demut

Das mit den Schanzenseglern ist ja ein ewiges Rätsel für mich. Sie gleiten den Anlauf runter, werfen sich todesmutig nach vorn und zischen durch die eiskalten Lüfte, eleganter als jede Drohne. Eigentlich machen alle dasselbe. Drei Stunden lang, wenn es sein muss. Alle Nase lang gleitet einer in die Spur. Und am Ende landet Einer früher, der Andere ein paar Meter später. 

Ich schau das gerne an, wirklich. Dabei lass ich mir die fachkundigen Kommentare durchaus gefallen. Aber was ich selbst erkenne, ist: gar nichts. Seit Jahrzehnten erzählt man mir von Anstellwinkeln, genau getroffenen Absprüngen und wie einer spürt, dass sein Ski kommt. Und was ich selbst erkenne ist: rein gar nichts. Noch während des Fluges lobt der Experte, dass der Springer gerade super abknickt, dass er ein Luftpolster unter sich hat, dass es ihn selbstverständlich weit nach unten trägt (meistens sogar weiiiiiit). Der Gescheitsprecher sieht genau, wie der Springer mit den Bedingungen am Schanzentisch spielt, weil sein Gefühl für den Ski stimmt und er gerade in der dritten Flugphase nicht zu früh aufmacht, sondern den Sprung bis zum Ende durchzieht. Aber was ich selbst erkenne, ist: überhaupt nichts. 

Selbst nach mehreren Jahrzehnten Schanzengucken: Null Unterschied zwischen Springer A und Springer B. Nur dass bei Springer B mehr Meter aufleuchten als bei Springer A. Natürlich schau ich mir die Tournee auch diesmal wieder an. Denn das Wundervolle an diesem Wettbewerb ist: Vielen geht's wie mir. Da gibt's keine 80 Millionen Bundestrainer, die es besser wissen, oder es gar selbst besser hingebracht hätten. Weil sich keiner von den TV-Sportlern so eine Schanze runter trauen würde. Endlich eine Sportart, bei der sogar die eingefleischten Fans sich nicht benehmen, als wären sie Besserwisser oder gar Weiterflieger. Das ist das, was ich am Skispringen mag: die staunende Demut des Publikums. Ich finde das irgendwie weihnachtlich. 

Die Welt ist eine Scheibe

Das ist ja beim Fußball ganz anders. Leider. Das haben ja die Engländer erfunden, diese brexitären Besserwisser, und den Boxing Day gleich mit. Damit ist der zweite Weihnachtsfeiertag gemeint. Keine Sorge. Der Name kommt nicht vom Boxkampf, sondern von Geschenk-Boxen, die bereits ausgepackt sind, damit die Britinnen und Briten endlich wieder ins Stadion gehen dürfen. Und während die Leute auf der Insel bei Matschwetter im Stadion sitzen, können Kontinentaleuropäer unseren Standortvorteil genießen und uns auf dem Sofa langfläzen. Sinnbefreit unterhalten von den Wolverhampten Wanderers oder dem Crystal Palace. So ist das in normalen Jahren. 

In diesem Jahr hat der Verband allerdings ein Verbrechen begangen. Der Boxing Day wurde auf Samstag den 27. verlegt. Was prompt für Aufruhr gesorgt hat. Den Terminplanern wird Verrat an der Tradition vorgeworfen. Der Frust geht quer durch alle Schichten. Da muss man sich schon in die Engländer hineinfühlen. Was sollen sie nur mit sich anfangen, den ganzen zweiten Weihnachtsfeiertag lang? Schließlich legt auch die Darts-WM eine Pause ein über die Feiertage. Also die Sportart, die es vermutlich in Deutschland gar nicht gäbe, wenn sie nicht zwischen den Jahren ihre Weltmeisterschaft ausspielen würde. Und bitte, komm mir jetzt nicht mit Andy Fordham und dem Argument, Darts wäre kein richtiger Sport, sondern nur ein Kneipensport für Standathlet:innen und andere Statuen mit einem beweglichen Arm. Das alte Klischee zieht nicht mehr. Außerdem: Endlich ein fortschrittlicher Sport für m, w und x. Beim Darts spielen alle Buchstaben in einem Wettbewerb. Zeitgemäßer geht's kaum. 

Obwohl mancher Insider den guten, alten Zeiten nachtrauert. Damals als die Sportler noch direkt von der Bühne ihre Pausengetränke orderten. Besoffen ist heute nur noch das Publikum. Aber so dicht, dass nicht wenige des Saales verwiesen werden. Anders auf der Bühne. Dort wird mit olympischem Ernst die Scheibe anvisiert. Die Besten der Besten trainieren alle Monate durch. Sie haben Konditionscoaches, achten auf Ernährung und bevorzugen isotonische Getränke. Manche treten in Klamotten an, die aus der Leichtathletik stammen könnten. Die gesprühten Drachen vor hawaiianischem Blumenmuster sind vom Aussterben bedroht. Das waren noch Zeiten als "The Wiking" Andy Fordham Weltmeister wurde, im Jahr 2004. Fordham brachte in seinen besten Zeiten 200 Kilo auf die Waage. In den Pausen des Finales soll er 24 Pint und eine Flasche Brandy geleert haben. Alles nur Legende? Fragen kann man ihn nicht mehr. Fordham starb 2021. In Dartfort, Grafschaft Kent. Und damit zurück zum Sport. 

50 Shades of Mud

Was ich selbst am zweiten Weihnachtsfeiertag schaue, allein auf meinem Sofa? Natürlich Gavere! Das ist ein Kaff in Flandern, an dessen südlichen Ortsausgang sich ein matschiger Hügel schmiegt. Die Wiese ist ganzjährig gesperrt. Betreten verboten. Damit an Weihnachten alles hübsch tiefschlammig ist. Das Rennen in Gavere ist einer der Höhepunkte der Cyclocross-Saison. Zu deutsch: Querfeldeinrennen. 

Wenn du jetzt an Klaus-Peter Thaler denkst, liegst du richtig. Der ist in diesem Jahr übrigens wieder Weltmeister geworden – in der Seniorenklasse 70+. Genau ein halbes Jahrhundert nach seiner ersten Weltmeisterschaft. Im Cyclocross der Gegenwart machen die Holländer und Belgier die Sieger unter sich aus. Bei den Männern kommt es in Gavere zum klassischen Duell: Mathieu Van der Poel gegen Wout Van Aert. Weltmeister gegen Publikumsliebling. Ich kann's kaum erwarten. 

Die Autoschlangen vor dem putzigen Dorf sind dann länger als jeder Stau am Brenner. Darum kommen viele mit dem Rad, auch von weit her. Alle mit Gummistiefeln. Wegen der Standfestigkeit. Hier fällt durchaus ins Gewicht, dass Einzelbestellungen an den Bierständen nicht möglich sind. Die Kasse kann unter einer Bestellung von zehn Bier nichts abrechnen. Entsprechend euphorisch feuert das Publikum ihre Helden an. 

Die belgischen Cyclocross-Rennen ziehen sich in diesem Jahr bis zum 4. Januar. Also täglich. Sogenannte Kerstperiode. Weihnachtsperiode. Neben Gavere sind Loenhout und Diegem sehenswerte Klassiker. Letzteres ein Nachtrennen durch traditionell schlecht beleuchtete Gassen eines Brüsseler Vororts. Die Pedaleure schießen über Spielplätze, Sportplatzböschungen, Fußgängertreppen und Gerüstbrücken. Meistens gewinnen die, die nach der letzten Treppe schneller in den Sattel kommen. Solltest du nicht verpassen. Wenn ich es dir sage. 

Pogo in Marokko

Und damit zum weihnachtlichen Höhepunkt. Praktisch Premiere. Weil der Afrika-Cup einen neuen Platz im Kalender erobert hat. Unter anderem: Elfenbeinküste gegen Mosambik. Kamerun gegen Gabun. Beide Spiele an Heiligabend. Das Turnier läuft schon seit Samstag. Finale wird Mitte Januar sein. Selbst wenn du mir eine eurozentristische Sichtweise vorwirfst: Endlich hat der Afrika-Cup einen Platz im Terminkalender, der seiner Bedeutung gerecht wird. Wir können ungestört vom restlichen Sportbetrieb genießen. 

Persönlich vergesse ich nie diesen feinen Januarabend im Januar 2002. Ein Sportskamerad hatte mich eingeladen. Südafrika gegen Ghana, Mali gegen Nigeria. Fraglos die Spitzenspiele der Vorrunde. Hintereinanderweg. Der vortreffliche Afrikacup-Kenner hatte am Morgen seine besten Tropfen entkorkt. Durch die Weingläser erkannten wir unsortierte Teams, die sich kaum über die Mittellinie trauten. Eigentlich ein Grottenkick. Aber beste Stimmung auf den Tribünen, Blasmusik selbstverständlich. Der Footballsound of Africa dröhnte uns gleichmäßig in den Schlaf. 

Als ich gegen Mitternacht weinselig wach wurde, lief schon die dritte Partie. Ich hatte kein Tor verpasst. Alle Spiele null zu null. Oh du Fröhliche! Ein seeliger Abend. Insgesamt ein gnadenbringendes Turnier, voller Vibes des Friedens und entzückender Träume der Völkerverständigung. Besinnlich bis zum Schlusspfiff. Und falls ich nachher nochmal einschlafen sollte, bitte weck mich nicht. Lass mich auf dem Sofa liegen. Dann hab ich gleich die richtige Position, wenn's morgen weiter geht. Danke.

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