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Auf der Straße

Im Laufen scheißen

Auf der Straße: Im Laufen scheißen
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Nur zehn Tage war ich außer Landes. Als ich zurückkam, fühlte ich mich dennoch wie einer, dem man beim Serienschauen den Stecker aus dem Fernseher gezogen hat. In Wahrheit war alles wie immer.

Das Bauernministerium am Kernerplatz stand am Abend im Regen, als wäre es überflüssig. Erich Hausers Stahlplastik ragte in die Wolken, als wollte sie uns warnen, dass uns schon morgen der Himmel auf den Kopf fallen wird. Aus dem chinesischen Restaurant drang noch Licht, was meine Hoffnung schürte, nach einer längeren Eisenbahnreise noch eine gute Suppe einzufahren. Chinesen sind weltweit führend auf dem Gebiet der Wiederbelebungsbrühe. Seit vielen Jahren empfehle ich allen Menschen meiner Umgebung, chinesische Lokale den amerikanischen Burgerbuden vorzuziehen und angesichts unserer geopolitischen Zukunft anständiges Trinkgeld zu hinterlassen. Xi Jinping wird mir als kapitalistischem Arschkriecher mildernde Umstände einräumen.

In der Nacht nach meinem China-Besuch hatte ich einen Traum. Ein Freund erteilte mir den Auftrag, einen Nachruf auf seinen gerade verstorbenen Hund zu verfassen und bei dessen Beerdigung vorzutragen. Der Hund hieß Tricky. Als ich bellend aufwachte, versuchte ich die Sache psychiatrisch einzuordnen. Der Freund im Traum war real, sein Gesicht deutlich zu sehen. Allerdings hat er im wirklichen Leben nie einen Hund besessen. Er hatte sich sogar fast einmal von seiner Frau scheiden lassen, weil sie mit einer Katze nach Hause kam. Die Ehe wurde gerettet, als sich beide auf einen gemeinsamen Karnickelstall im Garten einigten.

Dieser Konflikt erklärt jedoch nicht meinen Traum. Mir fiel ein, dass ich in den Ferien eine Geschichte aus Truman Capotes Buch "Wo die Welt anfängt" gelesen hatte; er brachte sie in einem Alter zu Papier, in dem ich gerade mal meinen Namen schreiben konnte. Seine Story mit dem Titel "Das hier ist von Jamie" erzählt von dem kleinen Jungen Teddy, der im Park einer Frau mit einem kleinen Hund begegnet. Der Drahthaarterrier heißt Frisky und gehört einem Jungen namens Jamie, der so krank ist, dass er das Bett nicht mehr verlassen kann. Am Ende erfahren wir, dass Jamie gestorben ist, vermutlich an Schwindsucht, und ein fremder Mann übergibt Teddy im Park den kleinen Hund. So eine Geschichte kann einen alten Mann auch noch im Schlaf verfolgen. Und aus einem Frisky einen Tricky machen.

Man könnte denken, einiges davon hätte ich erfunden. Leider aber besitze ich nicht Truman Capotes Fantasie, weshalb ich mich als Lohnschreiber auf die bodenständige Tätigkeit des Herumgehens beschränken muss. Womöglich spielt dabei auch mein Blick auf die letzte Strecke eine Rolle. "Das Leben dauert länger, wenn man geht", schreibt der Weltenwanderer Erling Kagge. "Gehen verlängert jeden Augenblick." Dies jedoch heißt auch nicht immer was Gutes. Manchmal geht mir die Geherei auf den Sack. Du kannst einer Sache so lange auf den Grund gehen, bis du daran zugrunde gehst.

Ferienerlebnisse im Bunker

Naturgemäß ging ich auch als Tourist meine Wege, die ich der Einladung zum Wiegenfest eines Freundes zu verdanken hatte (nicht der Mann mit dem Hund aus meinem Traum). Unterwegs war ich im Département Gironde an der Atlantikküste. Zum Meer habe ich mich noch nie hingezogen gefühlt, außer in Filmen mit Seefahrtsverbrechern. Winde, Wellen und Salzwasser sind hundsgemein. Und Sand unter den Füßen sabotiert meinen Vorsatz, als Gewohnheitstier wenigstens halbwegs aufrecht zu gehen.

Merkwürdigerweise bin ich überall, ob in Brooklyn, New York, oder Poppenbüttel, Hamburg, immer auf Dinge gestoßen, die in meine heimische Umgebung führen. Das Erste, was mir nach meiner Ankunft am Atlantik ins Auge fiel, waren Stahlbetonmonster, trotz ihrer von Graffiti-Artisten vermenschlichten Mauern leicht als Militärbunker zu erkennen. Deutsche Höllenlöcher. Kaum hatte ich sie gesehen, vertraute ich mich mit einigen Franzosen einer Führerin an, die uns über den Größenwahn der Nazis beim Bau des sogenannten Atlantikwalls aufklärte. Errichtet wurde dieses irrsinnige Bollwerk von der Organisation Todt unter dem Kommando des Nazi-Ingenieurs und Reichsautobahnregenten Fritz Todt. Geboren wurde er 1891 in meiner politisch nach wie vor bedrohlichen Nachbarschaft: in Pforzheim. Auch sein Studium schloss er gleich um die Ecke ab: in Karlsruhe.

Ach ja: Unsere Bunkerführerin berichtete noch, auch ein Monsieur Rommel sei mehrfach dagewesen. Als ich ihr sagte, ich hätte seinen Sohn gekannt, schaute sie ziemlich verdutzt. Das Rätsel ließ sich trotz meiner miesen Sprachkenntnisse leicht lösen: "Maire, Mayor, Stuttgart, you know." Die letzten deutschen Soldaten in den Bunkern wurden von Einheiten der Résistance niedergekämpft, sie kapitulierten am 19. April 1945, genau 80 Jahre bevor ich in diese Geschichte hineinstolperte.

Bei unserer Bunkerinspektion waren auch Kinder dabei. Als zwei Propellerflugzeuge über uns lärmten, fragte ein Knirps, ob wir jetzt bombardiert würden. Da wusste ich nicht, ob ich lachen oder mir schweigend vornehmen sollte, nach meiner Rückkehr schleunigst einen Bunkerplatz vor meiner Haustür zu suchen. Vielleicht ist unterm Bauernministerium noch eine Stallbox in der Hölle frei.

Späte Anerkennung für den Retter von Bordeaux

Das alles, ich gebe es zu, klingt nach Ferienausflugsaufsatz. Deshalb zurück zur Konzentration aufs Gehen. Nach dem Atlantikabstecher ging es nach Bordeaux. Beim Spazierengehen in dieser schönen, auf Holz und Schlamm gebauten Stadt kam ich zufällig an der Statue für Michel de Montaigne vorbei. Der große Philosoph und Essayist aus dem 16. Jahrhundert ist der berühmteste Bürgermeister der Stadt. Erst vor Kurzem hat mir eine Freundin sein Buch "Die Essais" geschenkt. In seinen Texten geht es auch mal um den Sklaven und Dichter Aesop, der sich vor 2.500 Jahren über den Unfug der gleichzeitigen Beschäftigung mit unterschiedlichen Dingen ausließ. Also mit meiner Untugend: Im Gehen mit dem Handy herumfuchteln, unwichtiges Zeug lesen und tippen. Laut Montaigne hat Aesop eines Tages beobachtet, wie sein multifunktionaler Herr im Gehen pisste, worauf dem Dichter der epochale Ruf entwichen sein soll: "Wie, werden wir gar im Laufen scheißen müssen?"

Sinnvoller erscheint mir, im Sinne Montaignes "haushälterisch" mit meiner Zeit umzugehen. Deshalb noch ein entschleunigter Blick vom Ausflugsboot. Auf dem Fluss Garonne, vor dem Hafen von Bordeaux, erzählte uns der Reiseführer die Geschichte des Henri Salmide. Ursprünglich hieß er Heinz Stahlschmidt, geboren 1919 in Dortmund als Nachfahre vertriebener Hugenotten. Im August 1944, als sich die Alliierten Bordeaux nähern, erhält er als Unteroffizier den Befehl, die Sprengung des Hafens der Stadt vorzubereiten, ohne Rücksicht auf den Tod Tausender Unschuldiger und die Zerstörung der Altstadt. Zuvor allerdings hat sich Heinz nicht nur in Bordeaux, sondern auch in die Französin Henriette verliebt. So jagt er nicht den Hafen, sondern das Depot mit den Sprengstoffzündern in die Luft. 50 Wehrmachtssoldaten kommen ums Leben. Nachdem er das Herz der Stadt gerettet hat, gewähren ihm der Résistance nahestehende Familien Unterschlupf. 1946, nach Kriegsgefangenschaft, kommt er noch einmal nach Deutschland, kehrt aber bald nach Frankreich zurück. 1947 wird er französischer Staatsbürger und heiratet Henriette. Mehr als 30 Jahre arbeitet er bei der Hafen-Feuerwehr von Bordeaux. 2010 stirbt er im Alter von 90.

Erst in den Neunzigerjahren wurden seine Courage und seine große Tat dank einer Regionalzeitung bekannt und Henri Salmide gebührend als "Retter von Bordeaux" gewürdigt. In Frankreich hatten ihn Kämpfer der Résistance lange missachtet und seinen Sabotageakt für sich beansprucht. In Deutschland galt er sowieso als Mörder und Verräter. Es gibt darüber ein sehr schönes Buch von Erich Schaake: "Bordeaux, mon amour. Eine Liebe zwischen Wehrmacht und Résistance".

Die Ferien sind vorbei. Ich bin zurück im Alltagstrott. Vielleicht macht Henris Geschichte etwas Mut. Tricky war nur ein Traum. Man muss nicht immer gleich vor die Hunde gehen.


Im Rahmen des Projekts Sukat Salam gastiert Joe Bauers Flaneursalon am Mittwoch, 21. Mai in der mobilen Laube auf dem Stuttgarter Marienplatz. Beginn 19 Uhr, Eintritt frei.

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