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Treppen am "Treffpunkt Rotebühlplatz"

Provisorisch bis in alle Ewigkeit

Treppen am "Treffpunkt Rotebühlplatz": Provisorisch bis in alle Ewigkeit
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Nach einer Rauchsimulation bekam der Stuttgarter "Treffpunkt Rotebühlplatz" zusätzliche Behelfstreppen für besseren Brandschutz. Was als Zwischenlösung geplant war, ist sechs Jahre später keinen Schritt weiter.

"Das Gestaltungskonzept basiert auf Offenheit und Kommunikationsfreude", erläuterte Architekt Horst Haag bei der Eröffnung des "Treffpunkt Rotebühlplatz" in der Stuttgarter Innenstadt. Seit 1992 vereint das Gebäude eine Vielzahl von Kulturangeboten unter seinem Dach, die Volkshochschule lädt regelmäßig zu Veranstaltungen ein. Das große Foyer besteht eigentlich ausschließlich aus Treppen: Dutzende davon verbinden die fünf Stockwerke, manche sind kurz, andere haben über hundert Stufen. Nicht immer werden die Etagen auf dem direktesten Weg vernetzt, teilweise weisen die längeren Treppen mehrere Abzweigungen vor, sodass die labyrinthischen Verästelungen Assoziationen zu den Werken von M.C. Escher wecken. 

Offenheit und Kommunikationsfreude mussten allerdings Abstriche hinnehmen, als eine Rauchsimulation drei Jahrzehnte nach der Einweihung zu dem Ergebnis kam, dass dem Gebäude etwas fehlte: mehr Treppen. Damit im Brandfall besser evakuiert werden kann, wurden daher im Frühjahr 2019 drei behelfsmäßige Metalltreppen von außen an das Gebäude angebracht – mit der Folge, dass durch die Fenster der Zimmer, in denen beispielsweise Musikunterricht stattfindet, nicht mehr viel anderes von der Außenwelt zu sehen ist als ein Blechgerüst. 

Ausgabe 417 vom 27.03.2019

Treppenwitz

Von Minh Schredle

Seitdem der "Treffpunkt Rotebühlplatz" innen und außen Treppen hat, wird er schon als schwäbisches Pompidoule bezeichnet. Dabei ist das Stuttgarter Kulturzentrum nichts anderes als eine miese Baustelle, die voll ins Stadtbild passt.

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Wolfgang Diehl, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Treppenforschung, kanzelte die Ausführung damals im Gespräch mit Kontext als "sehr primitiv" ab und meinte: "Da wären auf jeden Fall ansprechendere Varianten möglich gewesen." Zur Ehrenrettung der Stuttgarter Verwaltung muss allerdings betont werden, dass nach dem Bekanntwerden der Brandschutzmängel dringender Handlungsbedarf gegeben war und die Behelfstreppen ja nur eine Zwischenlösung sein sollten. Im Herbst 2019, hieß es damals, wolle der Gemeinderat diskutieren, wie mit dem Provisorium weiter zu verfahren sei. 

Das wirkt, gut sechs Jahre später, wie aus einem Land vor unserer Zeit: 2019! Das war vor der Pandemie, in Paris hat Notre-Dame gebrannt, im Juni tritt Andrea Nahles als SPD-Chefin zurück, Walter Lübcke wird von einem Rechtsextremisten erschossen, der Stuttgarter Oberbürgermeister heißt noch Fritz Kuhn (Grüne) und nicht Frank Nopper (CDU). Die Strukturkrise des Verbrennungsmotors in der Autostadt zeichnet sich schon ab, lässt sich dank sprudelnder Gewerbesteuereinnahmen noch erfolgreich verdrängen, Stuttgart scheint regelrecht im Geld zu schwimmen. 

Nun stand bei den Haushaltsberatungen zum Jahresende eine Kürzungsorgie an, weil die Landeshauptstadt mit Blick auf die Schwäche der Industrie ziemlich pleite ist. In den Medien hat sich mit Blick auf Klima, Wirtschaft und Faschismus der Begriff der Vielfachkrise etabliert, die Jugend schaut pessimistisch wie nie in die Zukunft, der Verfall der Welt schreitet rapide voran – und wenn überhaupt noch eine Konstante in diesen turbulenten Zeiten Halt gibt, dann wohl am ehesten die provisorischen Treppen am "Treffpunkt". 

Eine Anfrage, was sich in den vergangenen Jahren bei der Planung getan hat, geht am 20. November 2025 an die Stadtverwaltung. Am 15. Dezember erfolgt die Auskunft: Das Gebäude müsse "mittelfristig grundlegend neustrukturiert werden". Die äußeren Brandschutztreppen würden "nach Beendigung der Arbeiten, also sobald die Neustrukturierung abgeschlossen ist, abgebaut. Ein konkreter Zeitpunkt dafür steht derzeit noch nicht fest". Mit Blick auf die Finanzlage der Stadt und dringendere Prioritäten, die jetzt auf der Tagesordnung stehen, klingt das schwer nach einem Provisorium für die Ewigkeit.

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