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Asylzentrum Tübingen

Menschen sehen, nicht verwalten

Asylzentrum Tübingen: Menschen sehen, nicht verwalten
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Während die EU Asylrechte abbaut und der Bund den Familiennachzug aussetzt, engagieren sich beim Asylzentrum Tübingen seit 1987 Berater:innen für Geflüchtete. Sie sorgen dafür, dass Menschen nicht im Dickicht aus Vorschriften, Fristen und Willkür verlorengehen.

Als Mohammad Al-Hussain 2008 angeschossen sowie leicht traumatisiert mit seiner Frau und zwei Kindern nach Deutschland floh, hatte der Palästinenser aus dem Libanon keine Ahnung, was ein Asylverfahren bedeutet. Die Ablehnung seines ersten Antrags kam schnell, die Angst wuchs. Erst als Mitarbeitende des Tübinger Asylzentrums wie jeden Mittwochvormittag in die Flüchtlingsunterkunft kamen, änderte sich etwas. "Ohne sie hätte ich nicht bleiben dürfen", sagt Al-Hussain heute. Die Berater:innen stellten den Kontakt zu einem Anwalt her und halfen der Familie im Klageverfahren. Am Ende wurde sein Asylantrag anerkannt.

Flüchtlingsarbeit in Tübingen

Als 1981 in Tübingen eine Sammelunterkunft für Geflüchtete in der ehemaligen Thiepval-Kaserne eröffnet wurde, formierte sich in der Stadt Widerstand. Aber nicht gegen die Geflüchteten, sondern gegen die schlechten Unterbringungsbedingungen und gegen die Verschärfung der Asyl- und Ausländergesetze. Aus dem Protest entstand der Freundeskreis für asylsuchende Flüchtlinge, im November 1987 dann ein eigener Förderverein, im Juni 1990 wurde schließlich das Asylzentrum in der Tübinger Bursagasse 13 eröffnet. Es existiert, weil Menschen sich unbedingt für die Würde und die Rechte von Geflüchteten einsetzen wollten: überparteilich, überkonfessionell, aber parteiergreifend für ihre Klient:innen. Nach einem Umzug 1995 in die Neckarhalde 32 ist das Asylzentrum seit 2015 in der Neckarhalde 40 beheimatet und beschäftigt mittlerweile zehn hauptamtliche Mitarbeitende. 2024 beriet das Zentrum knapp 1.000 Menschen, leistete 8.500 Beratungseinheiten, das Budget belief sich auf knapp 500.000 Euro. Neben Spenden wird das Asylzentrum unter anderem durch die Stadt Tübingen, die Landkreise Reutlingen und Tübingen, den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU, den Bund sowie die Kirchen finanziert.  (era)

Etwas über 17 Jahre später sitzt Al-Hussain wieder im Asylzentrum, aber nicht als Ratsuchender. Nachdem er eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher absolvierte, ist er heute selbst Berater und hilft denjenigen, die dort stehen, wo er einmal stand. "Man weiß nie, was passiert. Selbst wenn man alles vermeintlich richtig macht", erklärt er. Dennoch ist das Asylzentrum ein Ort, wo zwischen Aktenordnern ganz viel Hoffnung schlummert. Aber auch ein Ort, wo politische Entscheidungen zu persönlichen Katastrophen werden.

"Wir sind eine der ersten Anlaufstellen in der lokalen Migrationsarbeit. Natürlich für Geflüchtete, aber auch für Ehrenamtliche und alle, die Fragen haben", erklärt Dagmar Menz, seit 2012 ehrenamtliche Vorstandsfrau des Vereins. "Aber das Asylzentrum ist noch mehr, nämlich auch ein Ort der Willkommenskultur, der Begegnung, der kulturellen Vielfalt und für viele ein Ort der Hoffnung." Das Integrationsmanagement der Kommunen sei zwar ebenso wichtig, aber reiche nicht aus. Aufenthaltsrechtliche Fragen, Asylrecht, Familienzusammenführung – um all das kümmere sich praktisch nur das Asylzentrum.

Die Undurchsichtigkeit des Familiennachzugs

Klara Fuhr ist erst seit vier Jahren hauptberuflich beim Asylzentrum beschäftigt, aber ihre Stimme klingt so sicher, als hätte sie schon Jahrzehnte Beratung hinter sich. Nahostwissenschaften studiert, bei der Refugee Law Clinic zusätzlich ausgebildet, Spezialgebiet: Familiennachzug. "Die Gesetzeslage ändert sich ständig", sagt sie. "Selbst wenn man das Asylrecht auswendig kennt, muss man jeden Tag neue Sachen lernen." Man brauche einiges an praktischer Erfahrung, um sich erfolgreich durch den Bürokratiedschungel zu kämpfen. Der Familiennachzug sei einer der undurchsichtigsten Bereiche des Migrationsrechts, oftmals könnten einzelne Regelungen nie richtig nachvollzogen werden, ergänzt Al-Hussain. "Allein wie die Ausländerbehörden mit unseren Klient:innen umgehen, ist schon in Tübingen ganz anders als in Rottenburg, obwohl es sogar derselbe Landkreis ist."

In vielen Fällen arbeitet das Asylzentrum mit Rechtsanwält:innen zusammen, doch beim undurchsichtigen Familiennachzug hängt der Erfolg des Antrags auch von Faktoren ab, die nicht beeinflusst werden können. "Wir sind zum Beispiel auf Antworten von Botschaften und Ausländerbehörden angewiesen", so Fuhr. "Doch meistens wissen wir monatelang nicht, wie der Stand des Verfahrens ist oder ob die Dokumente überhaupt angekommen sind. Oft warten wir ewig." Manchmal müssten Klient:innen gar so lange warten, dass ihr Familiennachzug aus Altersgründen ausgeschlossen wird, etwa beim Recht auf Elternnachzug, das in den meisten Fällen mit Erreichen der Volljährigkeit erlischt. Seitdem die Bundesregierung dieses Jahr den sogenannten subsidiären Schutz für zwei Jahre ausgesetzt habe, sei die Lage für viele Klient:innen "absolut katastrophal" und "eine extreme psychische Belastung", sagt Al-Hussain.

Bund setzt subsidiären Schutz für zwei Jahre aus 

"Ich hatte einen Fall, der war fertig. Die Zustimmung zum Familiennachzug hätte jeden Tag kommen müssen. Doch dann wurde der subsidiäre Schutz ausgesetzt", erzählt Fuhr. Subsidiärer Schutz gilt für Personen, denen im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Für Betroffene bedeutet die aktuelle Aussetzung: die nächsten zwei Jahre keine Familie, vielleicht nie wieder. Al-Hussain ergänzt: "Wir haben Klient:innen, die seit 2022 auf die Bearbeitung ihres Antrags warten. Jetzt wird nicht einmal mehr geprüft, die alten Anträge werden nicht weiterbearbeitet. Wir wissen oft nicht, wie es weitergeht." Man könne zwar noch einen Härtefallantrag stellen, dieser sei jedoch viel aufwändiger und die Chancen auf Bewilligung sehr gering.

Willkommenskultur konkret

Im Tübinger Asylzentrum gibt es neben einer kostenfreien Rechts- und Integrationsberatung wie beim “Coffee to stay” Hilfe bei der Familienzusammenführung, ein Angebot für Geflüchtete aus der Ukraine sowie eine Bewerbungswerkstatt. Mit dem Programm "Willkommen in Neckar-Alb" existiert eine längerfristige Begleitung von Geflüchteten. Zudem ist das Asylzentrum Teil von NIFA plus, einem Netzwerk zur beruflichen Teilhabe von Geflüchteten. Dolmetscher:innen übernehmen als "Kulturpaten" nicht nur das Übersetzen in Arztpraxen, auf Ämtern oder bei Anhörungen, sondern helfen dabei, neben der eigentlichen Sprache auch kulturelle Lebenswelten zu übersetzen.  (era)

Im Asylzentrum stößt die Aussetzung des subsidiären Schutzes auf Unverständnis, es sei nicht nachvollziehbar, das im Grundgesetz verankerte Recht auf Familie anzugreifen. "Es ist nur Symbolpolitik", sagt Fuhr. "Das Argument der Regierung, damit die Botschaften zu entlasten, ist fadenscheinig." Allein wegen der Härtefallanträge entstehe eine Mehrbelastung der Botschaften, die zudem alte Anträge aktuell gar nicht mehr bearbeiten, demnach auch für keine zukünftige Entlastung sorgen.

Symbolpolitik fürs "Stadtbild"?

Der Familiennachzug betrifft größtenteils Frauen und Kinder, die nach Deutschland kommen würden. Grundvoraussetzung dafür ist unter anderem, dass die bereits vor Ort ansässige Person über eine Wohnung und einen Arbeitsplatz verfügt, sodass für die eigene Familie gesorgt werden kann. Al-Hussain spricht zwar ruhig, aber seine Worte tragen eine spürbare Schwere in sich: "Ich habe das Gefühl, die Politik versucht alles, um flüchtende Menschen allgemein von Deutschland fernzuhalten."

Weit hergeholt scheint sein Gefühl dabei mit Blick auf illegale Push-Backs an den EU-Außengrenzen, wieder aufgenommene Abschiebungen nach Griechenland oder die Einführung des für Geflüchtete eher unvorteilhaften Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) nicht zu sein. "Das Stellen von Asylanträgen wird schwieriger, allgemein das Recht auf Asyl immer weiter angegriffen", sagt Fuhr.

Ein Ort, an dem Zukunft beginnen kann

Dagmar Menz aus dem Vorstand des Asylzentrums wünscht sich, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, wieder das Gefühl bekommen, hier willkommen zu sein. Die aktuelle Bundespolitik fördere ein schräges und verzerrtes Bild, welches Geflüchtete in ein negatives Licht rückt. "Darunter leiden Menschen, die oft riesige Schritte leisten und sich wahnsinnig engagieren, um sich zu integrieren", so Menz. "Wir brauchen dringend einen positiven Blick auf Migration. Ich wünsche mir, dass die Leute wieder mehr aufeinander zugehen, sich kennenlernen, spielen, Tee trinken, zwischenmenschliche Barrikaden abbauen und ein kulturell vielfältiges Miteinander erleben." So, wie es im Tübinger Asylzentrum möglich ist.

Doch die tägliche Arbeit des Asylzentrums werde durch den bundespolitischen Kurs sehr erschwert, teilweise sei es gar zum Verzweifeln. Auch gesellschaftlich sei vieles schlimmer geworden als noch vor ein paar Jahren, vor allem der Rassismus bei der Wohnungssuche, berichtet Al-Hussain: "Wenn Ausländerfeindlichkeit in Medien und vor allem in der Politik deutlich zu erkennen ist, wird sie auch in der Gesellschaft immer sichtbarer." Glücklicherweise sei Tübingen jedoch "eine Bubble", nicht perfekt, aber besser als anderswo mit der Universität, dem sozialen Engagement von Studierenden, den vielen Ehrenamtlichen. Die breite Solidarität, die dem Asylzentrum entgegenschlägt, helfe dabei, nicht aufzugeben. Genauso wie die Dankbarkeit der eigenen Klient:innen, die dafür sorgt, immer weiterzumachen. Spätestens die Erinnerung an Al-Hussains eigenen Geschichte wirkt als Beweis dafür, dass das Asylzentrum auch dort Möglichkeiten schafft, wo der Staat Türen schließt. Dass Hilfe wirkt, Beratung wirkt, Angebote wirken. Dass Menschlichkeit wirkt. Wie in der Neckarhalde 40, wo Menschen nicht verwaltet, sondern gesehen werden.

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