Faruk Özkan schöpft gerade mit einem Löffel den Milchschaum von seinem Latte Macchiato ab, als er seinen Bekannten entdeckt. Er hebt die Hand mit dem Löffel zwischen den Fingern zum Gruß und nickt dem Vorbeieilenden zu. Özkan sitzt im Freien eines Cafés – in einer Unterführung nahe des Stuttgarter Hauptbahnhofs, in zweiter Reihe zur Königsstraße, der Einkaufsmeile der Stadt. "Das ist der Schuhmacher von da drüben", sagt er. "Der kommt aus derselben Stadt wie ich. Und der andere, der sein Geschäft da hinten hat, auch." Der Barista, der seinen Latte Macchiato zubereitet hat, komme woanders her. Aber Faruk Özkan sieht genau vor Augen, wo dessen Geburtsstadt liegt, malt sie mit Fingern in die Luft.
"Es ist wichtig, solche Details zu erfragen und zu behalten. Sie bieten allererste Anknüpfungspunkte, aus denen Beziehung entstehen kann", erläutert er. Beziehung ist wichtig für das, was Faruk Özkan beruflich macht. Ohne die geht es nicht. Özkan ist Suchtberater – der erste mit türkischen Wurzeln in Baden-Württemberg. Seit beinahe 30 Jahren arbeitet er für den Stuttgarter Suchthilfeverein Release. Dort hat er das erste muttersprachliche Beratungsangebot für Menschen aus der Türkei aufgebaut.
Faruk Özkan kam im Sommer 1978 mit 16 Jahren als Sohn von Gastarbeitenden in die Stadt. Seine Eltern waren längst da, aber der jugendliche Faruk hatte in Samsun, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, noch die Schule beenden und das türkische Abitur machen wollen. Der Anfang in Deutschland war hart, erinnert er sich. Rassismus sei allgegenwärtig gewesen – im Kleinen wie im Großen. "Jungs wie ich kamen in keine deutsche Disko rein. Ausgrenzung war an der Tagesordnung. Und Helmut Kohl gewann die Wahl, indem er Stimmung gegen Ausländer machte", erzählt Faruk Özkan.
Als kulturbegeisterter junger Mann schloss er sich dennoch einem kleinen Theaterensemble in Schorndorf an. Die Truppe nannte sich "Hammerschlag". "Mit unserem Ensemble spielten wir in den 1980er-Jahren eines der ersten Stücke in Deutschland, das Rechtsextremismus angeprangert hat", erinnert sich der heute 63-Jährige. Zur selben Zeit lernte Özkan auch seine Ehefrau Birgit kennen. Die zwei Kinder der beiden sind heute längst erwachsen. Durch die Beziehung zu einer "echten Schwäbin" hat er damals Zugang zur hiesigen Kultur und zu Menschen außerhalb der türkischen Community bekommen.
Lieber Menschen als Gott
Faruk Özkan sagt von sich selbst, dass er kaum Hemmungen hat, auf andere Menschen zuzugehen. Da stecke vielmehr eine Neugier in ihm auf alles Menschliche – immer schon. "Meinen Kindern war meine offene Art in ihren Teenie-Jahren manchmal peinlich. Die haben mich dann entsetzt gefragt: 'Papa, wie kannst du einfach so fremde Leute ansprechen?'", plaudert der zweifache Vater lachend aus. Özkan liebt das Fotografieren, er richtet die Kamera am liebsten auf Menschen, versucht, im Bild zu erfassen und darzustellen, wer das Gegenüber ist. Dass er irgendwann Soziale Arbeit studierte, überrascht kaum. Zunächst hatte er sich allerdings für Politikwissenschaften entschieden. Denn Politik hat ihn schon interessiert, als er noch in der Türkei zu Hause war. Nicht nur die, die auf der kleinen Bühne spielt, sondern vor allem die auf den Bühnen der Welt, die internationale Politik. Als Jugendlicher setzt er sich mit den Schriften von Marx, Lenin und Che Guevara auseinander, ist begeistert vom Aufklärer Rousseau. Später in Deutschland liest er Nachkriegsliteratur wie die von Heinrich Böll.
Von seinen Eltern hat Faruk Özkan das nicht. Die seien bis heute nicht alphabetisiert. Dafür aber muslimischen Glaubens. "Ich bin in einem islamisch geprägten Staat aufgewachsen, wurde religiös erzogen und meine Eltern haben sich natürlich gewünscht, dass ich fünfmal am Tag in Richtung Mekka bete und die Moschee besuche", berichtet er. Nur mitgemacht hat er bald nicht mehr. Wie genau das gekommen ist, weiß er selbst nicht mehr, aber solange Faruk Özkan denken kann, sei er stets eher mit revolutionär denkenden Menschen unterwegs gewesen. Das hat ihn geprägt, meint er. Die monotheistischen Religionen sieht er kritisch. "Zu viel Gottheit, zu wenig Mensch", macht er es kurz. Eher könnte er sich mit den fernöstlichen Religionen verbinden, am liebsten ist und bleibt er aber Humanist. Seine Mutter sei nachgiebiger gewesen, habe mehr darauf vertraut, dass ihr Faruk den rechten Weg schon finden wird. Seinem Vater habe er irgendwann gesagt: "Misch dich nicht ein." Die Stärke, zu sich selbst und den eigenen Überzeugungen zu stehen, erinnert Faruk Özkan an ein Tier: "Manchmal glaube ich, ich bin ein großer Esel. Denn Esel bilden sich eine Meinung und bleiben dabei. Sie sind nicht stur, sondern standhaft." In der Eltern-Sohn-Beziehung habe das auch zu Brüchen geführt, über die Faruk Özkan aber hinwegsehen kann.
Drogen als "Werk des Satans"
Dass er sein Berufsleben Menschen widmet, die dem Islam zufolge Sünden begehen, wissen seine Eltern so genau nicht. "Nicht, weil ich es verheimlichen würde, sondern weil sie das Leben und die Strukturen hier nicht mehr kennen und das Ganze wohl auch zu komplex ist für sie", erklärt er. Seine Eltern sind schon vor vielen Jahren in die Türkei zurückgekehrt, wo sie beide mit weit über 90 Jahren leben. "Ich bin Sozialarbeiter. Ich helfe Menschen. Das reicht. Das können sie fassen. Das finden sie gut", sagt Özkan pragmatisch.
Suchterkrankungen sind in muslimischen Communitys ein weitaus größeres Tabu als anderswo. Der Koran thematisiert den Konsum von Substanzen an verschiedenen Stellen. In Sure Nummer 2, dem zweiten Kapitel des heiligen Buches, heißt es in Vers 219: "Man fragt dich nach dem Wein und dem Losspiel. Sag: In ihnen liegt eine schwere Sünde. Und dabei sind sie für die Menschen (auch manchmal) von Nutzen. Die Sünde, die in ihnen liegt, ist aber größer als ihr Nutzen." Und Vers 90 in Sure Nummer 5 sagt: "O ihr, die ihr glaubt! Berauschendes, Glückspiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein Greuel, das Werk des Satans. So meidet sie, auf dass ihr erfolgreich seid!" Auch im Hadith, der Gesamtheit aller Überlieferungen über die Handlungen und Aussprüche des Propheten Mohammed, findet sich manches zum Drogenkonsum. Dort steht zum Beispiel: "Alles Berauschende ist Wein, und alles Berauschende ist verboten, und wer Wein im Diesseits trinkt und stirbt, wobei er sich diesem hingibt und keine Reue zeigt, so wird er diesen im Jenseits nicht zu Trinken bekommen." Aus diesen Quellen leitet sich das strikte Verbot jeglichen Drogenkonsums für muslimische Menschen ab. Wegen dieser Quellen sind Drogen "haram" – verboten also.
Viel Tee und die Suche nach Gemeinsamkeiten
An seinen ersten Rausch erinnert sich der langjährige Suchtberater noch gut. Den erlebte er in seiner Geburtsstadt Samsun: "Ich war 15 und zog mit älteren Freunden durch die Stadt. An den Alkohol sind wir heimlich gekommen und haben ihn auch heimlich konsumiert. Er gehörte in die Erwachsenenwelt, und die wollte ich kennenlernen, da wollte ich rein." Hängen geblieben ist ihm auch der Name "des billigsten Rotweins, den es damals zu kaufen gab": Derdalan. Noch heute steht er in roten Lettern auf dem Etikett, das eine alte vergilbte Schriftrolle zeigt. "Übersetzt heißt das etwa: der, der dir die Sorgen nimmt. Das klingt verlockend und wenig nach Sünde", findet Özkan. Geschmeckt hat ihm der Wein damals nicht. Erst in Deutschland habe er gelernt, Alkohol zu mögen.
Das Wort "Drogen" mag Faruk Özkan nicht. Er sagt lieber "Substanzen", wenn er die verschiedenen Suchtstoffe in einem Oberbegriff zusammennimmt. "Wenn ich 'Drogen' sage, ruft das sofort Bilder hervor, die negativ behaftet sind. Das Wort trägt dazu bei, Abhängige zu stigmatisieren. 'Substanzen' wirkt neutraler, glaube ich." Weil es mit Faruk Özkan jemanden aus ihrem Kulturkreis als Ansprechpartner gibt, haben sich viele Betroffene mit türkischem Migrationshintergrund erstmals aus der Deckung gewagt, haben ihr Problem offenbart.
Anfangs ist er als Streetworker in der Szene unterwegs gewesen. So hat er sich bei den Menschen einen Namen gemacht. Dann hat er seinen Arbeitgeber von einem Beratungsangebot in türkischer Sprache überzeugt. "Zu denken, ich bin hier, mich gibt's, die Leute sollen kommen, reicht aber nicht. Ich bin in Moscheen gegangen, habe Kontakt zu Imamen, Predigern und Gelehrten gesucht", berichtet Faruk Özkan. Viel, viel Tee hätten sie miteinander getrunken und allererste Anknüpfungspunkte dabei gesucht. Über die Orte ihrer Kindheit zum Beispiel, die ihn auch mit dem Schuhmacher in der Unterführung und dem Barista verbinden. In Faruk Özkans Büro hängt deshalb eine große Landkarte der Türkei. Gemeinsamkeiten suchen, das sei wichtig. Und transparent sein. "Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, wer ich bin und was ich will." Stattdessen hat er mit den Menschen über die Themen gesprochen, die sie bewegen. Mit Worten, die nicht abstoßend sind. "Ich habe zum Beispiel nie gesagt, ich möchte über Drogenabhängigkeit sprechen. Ich habe gesagt, ich möchte über unsere Kinder sprechen und über die Probleme, die sie haben. Das meint dasselbe, ist aber kultur- und religionssensibel formuliert", erläutert der Suchtexperte.
Zusammenhalt, aber auch Druck
Für den Erfolg seiner Arbeit sei es entscheidend, die Familien mit ins Boot zu bekommen. Türkischstämmige Menschen würden sich mehr als Kollektiv empfinden denn als Individuum, sagt er. "Das hat Vorteile. Der Zusammenhalt ist groß, die Fürsorge auch. Kinder leben oft bis zur Heirat bei den Eltern. Aber das bedeutet auch, dass Scham, Schuldgefühle, Versagensängste und damit der Druck noch um ein Vielfaches größer sind als sowieso. Deshalb müssen wir bei den Familien Verständnis wecken", erläutert Faruk Özkan. Und auch hier wieder: sie abholen. Da, wo die Familien stehen. Der Vater eines Klienten habe seinen Sohn immer wieder gedrängt, doch endlich auch auf das Substitutionsmittel zu verzichten, auf die ärztlich verordnete Ersatzdroge also. Nach Entzügen und Therapien sei eine geringe Dosis zur immer gleichen Tageszeit in der immer gleichen Qualität in einem sicheren Setting das Einzige gewesen, was von einem langjährigen riskanten Mischkonsum noch übriggeblieben war. "Diesen Vater habe ich gefragt, ob er irgendwelche Medikamente nimmt. Da hat er mir erzählt, dass er Tabletten braucht fürs Herz." "Sehen Sie", hat Faruk Özkan da erwidert, "und ihr Sohn braucht dieses Mittel, damit er körperlich und seelisch im Gleichgewicht ist." Seither habe der Vater die Substitution seinem Sohn gegenüber nie mehr thematisiert.
Vor wenigen Wochen hat Faruk Özkan den Manfred-Rommel-Preis des Deutsch-Türkischen Forums Stuttgart bekommen. Der Preis wird alle zwei Jahre für herausragendes Engagement in den Bereichen Völkerverständigung, Integration und gute Nachbarschaft verliehen. In der Laudatio hieß es: "Unsere Stadt braucht solche Menschen wie Faruk Özkan, die Türen öffnen, Perspektiven vermitteln, Wissen zugänglich machen. Menschen, denen auch deshalb vertraut wird, weil sie dieselbe Sprache sprechen – im eigentlichen Sinn des Wortes."




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