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Verdi Baden-Württemberg

Links im nach rechts gerückten Land

Verdi Baden-Württemberg: Links im nach rechts gerückten Land
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Neue Leute, neue Inhalte? Verdi Baden-Württemberg hat sich neue Leitungsköpfe gewählt. Mit Maike Schollenberger steht eine dezidiert linke und junge Frau an der Spitze, flankiert wird sie von Benjamin Stein und Hanna Binder. Im Gespräch mit Kontext deuten sie an, dass sie nicht weitermachen wollen wie bisher.

Verdi Baden-Württemberg hat neue Chef:innen und rückt nach links, las ich. Was erwartet uns jetzt, Frau Binder, Frau Schollenberger, Herr Stein? Revolution?

Schollenberger: Ich glaube, wir haben in den nächsten Jahren politische und tarifpolitische Themen, die wir sehr kämpferisch und offensiv angehen müssen. Wir erleben Angriffe auf die Arbeitszeit, beim Mindestlohn hätten wir uns von der Politik größere Unterstützung gewünscht. Die Tarifbindung ist ein Thema. Wir sind feministisch, wir sind antifaschistisch und wenn das alles als Rücken nach links interpretiert wird, dann liegt das eher an einem Land, das nach rechts rückt. Und diesem Rechtsruck stemmen wir uns entgegen.

Sind das Ihre persönlichen Themen oder die der Mitglieder?

Binder: Das sind die Themen, die unsere Mitglieder bewegen in der Arbeitswelt. Und in der Arbeitswelt fällt es uns auch leicht, sie für die Forderungen auf die Straße zu bringen. Manche Mitglieder differenzieren natürlich und sagen, ich unterstütze meine Gewerkschaft im Arbeitskampf, ticke aber politisch anders. Wir können nicht leugnen, dass auch unter den Gewerkschaftsmitgliedern das Wahlverhalten jetzt nicht linker geworden ist. Sehr viele unserer Mitglieder und der Arbeiterinnen und Arbeiter haben bei den letzten Wahlen AfD gewählt. Also ja, insofern sind das die Themen, die uns wichtig sind. Und diese Kernthemen sind so wichtig, dass wir sie auch politisch übersetzt bekommen müssen. Da finden wir im Moment im politischen Betrieb Zuspruch nur der linken Parteien. Deswegen wirkt es vielleicht so, als würden wir uns verändern. Aus meiner Sicht verändert sich aber mehr die Parteienlandschaft als wir. Wir haben jetzt eine gestärkte Partei Die Linke, die sehr stark mit unseren Themen arbeitet, wir haben eine SPD, die zwar noch mit den Themen arbeitet, sie aber nicht mehr so in den Vordergrund stellt. Und die Grünen, vor allem hier im Land, arbeiten mit unseren Themen relativ wenig.

Maike Schollenberger, 35, Landesbezirksleiterin von Verdi Baden-Württemberg, kommt aus Markgröningen, hat Post-Kauffrau gelernt, arbeitete als Briefträgerin und seit 2015 bei Verdi als Gewerkschaftssekretärin. 2023 wurde sie stellvertretende Landesvorsitzende. Schollenberger ist parteilos und arbeitet in Stuttgart auch bei der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber mit. Mit Freund:innen teilt sie sich einen Garten.  (lee)

In welchen Verdi-Branchen müsste am meisten passieren?

Schollenberger: Die sozialen Berufe sind immer topwichtig. Natürlich sind Erzieherinnen in Kitas und auch Pflegekräfte in Krankenhäusern oft im öffentlichen Dienst verankert, wo Entlastung ein immer wichtigeres Thema wird. Wir haben aber immer mehr Kliniken und vor allem Pflegeeinrichtungen, die nicht zum öffentlichen Dienst gehören. Und da sind die Arbeitsbelastungen zum Teil nochmal schlechter. Da gibt es noch viel zu verbessern. Kitas sind insbesondere auf dem Land oft bei kirchlichen Trägern, wo wir noch mal ganz spezielle Herausforderungen haben durch das Kirchenrecht, das unter anderem das Streikrecht stark einschränkt. Und: Ein großer Bereich, wo auch wir die letzten Jahre viel zu kämpfen haben, ist das Sterben des Einzelhandels.

Gerade im Einzelhandel geht seit Verdi-Gründung wenig voran. Ich selbst habe mich mit Breuninger beschäftigt – da hielt sich das Verdi-Engagement in den vergangenen Jahren in Grenzen.

Schollenberger: Der Handel ist eine unserer größten Herausforderungen. Da haben wir immer weniger Tarifbindung. Aber ja, Breuninger als ein Traditionshaus hätte mehr Verdi verdient. Ich glaube, die Versuche waren schon immer wieder da.

Benjamin Stein, 45, ist neu im Team auf der Landesebene. Er war zuletzt Geschäftsführer im Verdi-Bezirk Fils-Neckar-Alb, gelernt hat er IT-Systemelektroniker bei der deutschen Telekom, seit 2008 ist er hauptamtlich bei Verdi. Stein ist parteilos und kommt ursprünglich aus Waldkirch. Er lebt mit seiner Familie bei Reutlingen.  (lee)

Ja, aber Verdi ist nicht konsequent dran geblieben.

Stein: Im Handel lässt sich Gewerkschaftsarbeit weniger einfach organisieren als beispielsweise in einem großen Krankenhaus: Filialbetriebe, die man kaum zusammenbringen kann, wenig Betriebsräte und wenn doch, haben diese oft keine Freistellung. Konzernstrukturen, die darauf aus sind, Gewerkschaftsarbeit zu verhindern. Eine Landes- und Bundespolitik, die kein Interesse daran hat, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, das heißt, zu versuchen, Arbeitsbedingungen zu verbessern. Immer mehr Verdrängung des stationären Einzelhandels durch den Versandhandel.

Binder: Ich würde ergänzen, dass wir im Handel auch zusätzlich strukturellen Machtmissbrauch haben. Frauenberufe werden bewusst dazu benutzt, um Frauenverdienste niedrig zu halten, und wir haben im Einzelhandel ganz typische Frauenberufe mit ganz vielen Teilzeitanteilen. Dort wollen Leute gerne mehr arbeiten, werden aber in Teilzeit klein gehalten und können sich dann auch deswegen nicht emanzipieren. Das macht natürlich die Arbeit in den Bereichen zusätzlich schwierig.

Das waren jetzt viele Erklärungen, warum Verdi im Handel wenig hinbekommt. Lange hat es gedauert, bis in der Pflege Streiks möglich wurden. Gibt es Überlegungen, auch im Handel so eine Langfriststrategie anzugehen? Oder sagt Verdi: Die Bedingungen sind so schwierig und wir haben zu wenig Leute, wir lassen das?

Schollenberger: Nein. Aber wir müssen uns, im Handel wegen der großen Unternehmen im bundesweiten Konzert, genau anschauen, wo wir am meisten erreichen können. Sich die Frage zu stellen, wo ist jetzt unser Hebelpunkt, wo können wir jetzt mit möglichst vielen Kolleg:innen, die bereit sind, mit uns für die Dinge zu kämpfen, auf die Straße gehen, ist manchmal ein schwieriges Abwägen. Ist es der Online-Handel, weil wir sagen, wir müssen uns darauf konzentrieren, weil Amazon eben einer der Big Player ist und dort werden Betriebsrätinnen und Betriebsräte systematisch mit Union Bashing aus dem Unternehmen getrieben. Oder ist es der stationäre Einzelhandel, ist es die Kauflandfiliale, ist es Breuninger? Im Handel ist der Gegenwind besonders rau. Unser Ziel muss bleiben, niemanden mit seinem oder ihrem Arbeitgeber alleine zu lassen. Wie wir dahin kommen, müssen wir bereden.

Hanna Binder, 49, wurde 2016 das erste Mal zur stellvertretenden Landesbeirksleiterin gewählt, zuletzt 2023 für weitere vier Jahre. Sie studierte Jura unter anderem in Konstanz und arbeitete zunächst als Rechtsanwältin, bevor sie 2009 hauptamtlich zu Verdi kam. Für ihre Partei SPD kandidiert sie in Stuttgart im März 2026 für den Landtag auf dem eher aussichtlosen Listenplatz 32. Binder ist verheiratet und hat zwei Kinder.  (lee)

Wie kommen Sie denn zu der Entscheidung, wo Verdi besonders aktiv werden will?

Schollenberger: Es gibt eine Steuerung von der Bundesebene, es gibt Kampagnen, die bundesweit Sinn ergeben, wie zum Beispiel der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon. Und schließlich bestimmt auch einfach der Tarifkalender unsere Schwerpunkte. Aber wir sind ja angetreten mit eigene Vorstellungen. Wir wollen uns mit den gesellschaftspolitischen Bewegungen hier auseinandersetzen und darüber mit unseren Mitgliedern sprechen. Wenn es um Frauenarbeit geht, dann können wir diese gesellschaftspolitischen Aspekte ja gar nicht ausblenden. Wenn wir im Öffentlichen Dienst mit den Straßenbahnfahrer:innen unterwegs sind, können wir uns eine Unterstützung durch die Klimabewegung gut vorstellen. Wir sind überzeugt: mit dem Rückenwind gesellschaftlicher Bewegungen lässt sich mehr erreichen. Und es geht ja auch immer um die Menschen, die auf den öffentlichen Dienst angewiesen sind. Die möchten, dass der Bus auch noch in 20 Jahren fährt und dass da auch noch jemand drin sitzt. Und es geht auch um politische Bewusstseinsbildung, um Klassenbewusstsein, hat Benjamin in seiner Antrittsrede gesagt. Ob die staatliche Daseinsvorsorge abgebaut wird, ist eine politische Frage.

Stein: Wir gönnen uns bis zum Herbst eine Findungsphase, in der wir für uns analysieren, was in den letzten 25 Jahren Verdi aus unserer Perspektive gut und was nicht optimal gelaufen ist. Zum Beispiel wurde in manchen Bereichen zu wenig versucht, mit neuen Konzepten zu arbeiten. Dagegen haben wir im Gesundheitsbereich Neues probiert mit Organizing. Bei den Erzieherinnen sind wir seit 2006 neue Wege mit mehr Beteiligung der Mitglieder gegangen und haben über die vielen Jahre auch einiges erreicht. Das haben wir in anderen Branchen nicht so intensiv ausprobiert. Ich war zehn Jahre lang Geschäftsführer vor Ort, habe nicht immer das gemacht, was Berlin gesagt hat und habe neue Dinge ausprobiert. Da müssen wir vielleicht auch in Baden-Württemberg schauen, wo kann man was neu zünden. Und dann geht es auch darum, unsere Beschäftigten zu motivieren, neue Wege mit uns zusammen zu gehen.

Sind in Verdi-Branchen eigentlich irgendwo Leute vom Zentrum aufgetaucht? Also von dieser rechtsextremen Pseudogewerkschaft, die in der Autoindustrie versucht, Boden zu gewinnen.

Schollenberger: Wir hatten um die Corona-Zeit im Gesundheitswesen die Vermutung, dass sich in einem Klinikum auf der Ostalb oben etwas tut. Das hat sich aber durch den engagierten Einsatz der Personalräte und der Gewerkschaftssekretärinnen schnell wieder erledigt. Wir sind gespannt, ob zu den Betriebsratswahlen 2026 solche Leute auftauchen. Wir machen keine Gesinnungsprüfung bei den Menschen, die auf unseren Gewerkschaftslisten kandidieren, aber wir schauen genau, ob die Kolleginnen und Kollegen tatsächlich zu unseren Grundwerten als Gewerkschaft stehen: dass wir vielfältig sind, dass wir für eine offene, demokratische Gesellschaft stehen.

Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat derzeit etwa 1,9 Millionen Mitglieder und ist damit die zweitgrößte Gewerkschaft nach der IG Metall (knapp 2,1 Millionen). Verdi Baden-Württemberg meldet aktuell 210.000 Mitglieder, in diesem Jahr traten 10.720 Frauen und Männer ein.  (lee)

Apropos Wahlen: Am 8. März sind Landtagswahlen. Wie ist denn der Kontakt zum CDU-Spitzenkandidaten Manuel Hagel?

Schollenberger: Wir haben uns bisher wenige Male getroffen, es gab eine Geburtstagskarte, die ich bekommen habe. Wir werden uns jetzt mit den Landespolitiker:innen treffen und austauschen, uns kennenlernen.

Und wie viele Tränen weinen Sie Winfried Kretschmann nach, wenn er nach der Landtagswahl abtritt?

Schollenberger: Wir sind auf jeden Fall gespannt, wer nach ihm kommt. Vor kurzem waren wir mit dem DGB zu Gast bei Kretschmann, er hatte nochmal geladen, um mit allen Gewerkschaften über aktuelle arbeitspolitische Themen zu sprechen. Wenn wir unseren Kolleginnen und Kollegen in den Kitas, in den Krankenhäusern, in der Paketzustellung sagen, dass sie laut Kretschmann eine Stunde länger arbeiten sollen, um dieses Land über die Runden zu bringen, dann sind die Kolleg:innen schockiert und ich auch. Denn die Realität unserer Leute ist: Sie arbeiten alle schon eine Stunde länger. Sie machen in ihrer Mittagspause die Übergabe auf Station. Sie bleiben eine halbe Stunde länger in der Kita, weil das Kind noch nicht abgeholt werden kann. Und von den Paketzustellerinnen, die alle keine Pause machen, sondern durchfahren, möchte ich gar nicht sprechen. Ich hoffe, dass wir zukünftig einen Ministerpräsidenten haben, der einen ehrlichen Blick auf die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen hat.

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1 Kommentar verfügbar

  • Fragen, unbeantwortbar
    vor 5 Tagen
    Antworten
    "Kitas sind insbesondere auf dem Land oft bei kirchlichen Trägern."

    Werden da den Kindern, habe ich mich schon oft gefragt, eigentlich die Hände weggezogen, wenn sie, bei sich oder bei anderen, die 'unberührbaren' Stellen anfassen wollen? Dasselbe kann natürlich auch in allen sonstigen…
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