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ÖPNV und Strafgesetz

Ohne Fahrschein in den Knast

ÖPNV und Strafgesetz: Ohne Fahrschein in den Knast
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Köln, Bonn, Düsseldorf und Dresden gehören zu den zwölf Städten in Deutschland, in denen Fahren ohne Fahrschein nicht mehr zur Anzeige gebracht wird. In Freiburg stellte sich die Verkehrsgesellschaft dieser Diskussion.

240 Tage Knast, also acht Monate hinter Gittern wegen Fahren ohne Fahrschein. Gibt es nicht? Doch. Genau das war die maximale Zeit, die jemand wegen des " Erschleichens von Leistungen" 2024 in Baden-Württemberg inhaftiert war. Das "Erschleichen von Leistungen" ist der Paragraf 265a des Strafgesetzbuches. Eingeführt wurde er mit genau dieser Nummerierung und quasi wortgleich 1935 im Rahmen einer Strafgesetznovelle, die die Unterschrift "Adolf Hitler" trägt.

Weg mit diesem Naziparagrafen! Das ist die klare Forderung des Arbeitskreises kritische Soziale Arbeit Freiburg, des Freiburger Arbeitskreises kritischer Juristinnen und Juristen und auch der bundesweit tätigen Initiative Freiheitsfonds. Sie alle waren beteiligt an einer Veranstaltung am 14. Mai in Freiburg. Die Führungsspitze der Freiburger Verkehrsgesellschaft VAG hatte sich bereit erklärt, über die Forderung zu diskutieren, die VAG möge zukünftig auf Anzeigen gegen "Schwarzfahrer:innen" verzichten. Denn solche Anzeigen können tatsächlich dazu führen, dass Menschen ins Gefängnis kommen. Gefährdet ist ein bestimmter Teil der Gesellschaft. Der Freiheitsfonds geht davon aus, dass 87 Prozent der Betroffenen erwerbslos sind und 15 Prozent keinen festen Wohnsitz haben. 15 Prozent seien zudem suizidgefährdet. "Es geht um Menschen in Multiproblemlagen", erklärt Frank Stocker, der als Sozialarbeiter in der Wohnungslosenhilfe arbeitet.

Keine Einzelfälle

Leonard Ihßen von der Initiative Freiheitsfonds nennt einige Fälle: Herr K. ist wohnungslos und sehr krank. Er kann nicht selbstständig essen und hat einen diabetischen Fuß. Doch statt Unterstützung zu erhalten, sollte er ins Gefängnis. Über 100 Tage. Wegen Fahren ohne Ticket. Eine Sozialarbeiterin meldete sich beim Freiheitsfonds, der ihn freikaufte.

Ihßen berichtet von einem Antrag auf das Freikaufen einer Frau, die wegen häuslicher Gewalt eine Anzeige bei der Polizei erstatten wollte. Auf dem Revier wurde sie inhaftiert, weil es wegen Fahrens ohne Fahrschein einen offenen Haftbefehl gegen sie gab. "Wo liegen hier die Prioritäten?", fragt sich Ihßen. Diese Frage stellt sich auch bei Herrn S.. Er hat seit fünf Jahren endlich eine eigene Wohnung. Jetzt droht der Verlust der Wohnung, weil er wegen Fahren ohne Ticket inhaftiert wurde. Eine Gefängnismitarbeiterin meldete sich beim Freiheitsfonds und bat Herrn S. freizukaufen. Leonard Ihßen spitzt zu: "Der Staat sperrt Menschen ein – und ruft dann einen spendenfinanzierten Verein um Hilfe." Seit Dezember 2021 hat der Freiheitsfonds knapp 1.300 Menschen freigekauft und dafür über eine Millionen Euro gezahlt. 237 Haftjahre fielen weg, wodurch der Staat 18,4 Millionen Euro gespart habe, sagt Ihßen. Gefängnisaufenthalt sind eine teure Sache.

Freikaufen oder Ersatzfreiheitsstrafe

Obwohl es meist nur einige Euro sind, die ein Ticket gekostet hätte, ist die Zahl der Hafttage oftmals alles andere als gering. Im Jahr 2024 betrug die durchschnittliche Haftdauer bei Ersatzfreiheitsstrafen wegen "Erschleichens von Leistungen" in Baden-Württemberg 55 Tage, erklärt das Justizministerium. Ersatzfreiheitsstrafen sind Haftstrafen, die verhängt werden, wenn Menschen eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht begleichen können. "Das ist eine Form von Armutsbestrafung", erklärt Frank Stocker vom Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit. Betroffen sind in relevantem Maß Personen, die ohne Ticket Zug oder Bus gefahren sind. Von 4.267 Gefangenen, die 2024 wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe in baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten einsaßen, waren immerhin 552 Personen, denen das "Erschleichen von Leistungen" vorgeworfen wurde. Dabei beginnt es unspektakulär – aus dem exemplarischen Strafbefehl des Freiheitsfonds: "Gegen 08-07 Uhr fuhren Sie mit der Straßenbahn Linie 1 der Rhein-Neckar-Verkehr GmbH von der Haltestelle Voltastraße in Richtung der Haltestelle Hauptbahnhof Mannheim, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein. Sie hatten bereits bei Fahrantritt vor, den Fahrpreis in Höhe von 3,00 € nicht zu entrichten. (…) Die Staatsanwaltschaft hält wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten." Die Frist auf solche Strafbefehle zu reagieren liegt bei zwei Wochen. Eine Richterin oder einen Richter bekommen die allermeisten Betroffenen nicht zu Gesicht.

Sozialarbeiter Frank Stocker schildert, dass solche Fristen für seine Klientel oft ein großes Problem darstellen. "Der ganze Briefkasten wird manchmal nicht geöffnet, aus Angst, was dort jetzt wieder kommt, was einen wieder überwältigt, was zu einem Leben in prekären Verhältnissen noch obendrauf kommt. Wohnungslose haben oft Postersatzadressen. Da sind zwei Wochen schnell vergangen." Womit sie dann per Strafbefehl zu einer Geldstrafe verurteilt sind. Diese, erklärt Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds, lägen meist zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Für viele Menschen in prekären Lebenslagen eine nicht stemmbare finanzielle Belastung. Sie können die Strafe nicht zahlen und müssen stattdessen eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten.

Wie eine Person aus der JVA Heimsheim, die dank der Spendengelder nach 99 Tagen Haft vom Freiheitsfonds freigekauft wurde, gut die Hälfte der Tage hinter Gittern blieben ihr so erspart. Das Gefängnis, erklärt Frank Stocker, helfe nicht, es verschärfe meist noch die Lebenssituation der Betroffenen. Von bundesweit 8.000 bis 9.000 Fällen pro Jahr geht der Freiheitsfonds aus. "Wir können nur einen kleinen Teil der Betroffenen freikaufen", sagt Leonard Ihßen und erklärt: "Wir wollen das eigentlich nicht mehr machen."

Entkriminalisierung auf Bundesebene?

Der Freiheitsfonds hofft auf eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein auf Bundesebene. Wegfallen sollen die Strafzahlungen, bleiben soll das sogenannte erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro. Die Ampelkoalition hatte sich auf eine Streichung des Paragrafen 265a geeinigt. Stattdessen sollte das Fahren ohne Fahrschein "nur" noch eine Ordnungswidrigkeit sein (so wie das Falschparken). Gerade Menschen in Multiproblemlagen hätte die Gesetzesänderung allerdings nicht unbedingt geholfen. Denn wenn eine Geldbuße nicht gezahlt wird, kann trotzdem Erzwingungshaft angeordnet werden. Diese ist mit maximal drei Monaten zwar kürzer als lange Ersatzfreiheitsstrafen, anders als bei letzterer gilt das Bußgeld allerdings durch die Haft nicht als abgezahlt. Das Ampel-Aus bedeutete vorerst auch das Aus für die Streichung des Paragrafen.

Der Freiheitsfonds setzt nun auf die neue Bundesjustizministerin Stefanie Hubig von der SPD. In einer Online-Petition an sie heißt es: "Die SPD hat sich bereits mehrfach für die Entkriminalisierung ausgesprochen. Jetzt muss sie zeigen, dass sie es ernst meint und Taten folgen lassen!" Bis dahin nimmt die Initiative die kommunale Ebene in den Blick.

Zwölf Städte stellen keine Strafanzeigen mehr

Köln, Bonn, Düsseldorf, Münster, Bremen, Bremerhaven, Wiesbaden, Mainz, Potsdam, Halle, Leipzig und Dresden: All das sind Städte, in denen die Verkehrsgesellschaften keine Anzeigen stellen, wenn Fahrgäste in Bus und Bahn beim Fahren ohne Fahrschein erwischt werden. In Karlsruhe hatte die Linkspartei ebenfalls eine solche Initiative ins Rollen gebracht: "Auto abstellen ohne Parkschein zu lösen – kostet beim Erwischt werden max. 40 Euro und kann hundertmal wiederholt werden. Dagegen werden bei einer Fahrt ohne Ticket 60 Euro erhöhtes Beförderungsentgelt fällig – plus eine Strafanzeige on Top ab dem dritten Mal. Da muss man sich wirklich fragen ob hier die Relationen stimmen", erklärte die Linkspartei-Stadträtin Mathilde Göttel im Februar 2024 im Gemeinderat und überzeugte so offenbar auch noch andere. Die Gemeinderatsmehrheit sprach sich für den Verzicht auf Strafanzeigen aus.

Der Aufsichtsrat des Karlsruher Verkehrsverbundes KVV stellte sich allerdings gegen den Beschluss des Rates. Und hält weiterhin an Strafanzeigen fest. Die Praxis wurde lediglich leicht abgemildert. Bisher bekam eine Strafanzeige, wer drei Mal in drei Jahren ohne Ticket erwischt wurde. Nun führt "nur noch" drei Mal ohne Ticket fahren in 12 Monaten zu einer Anzeige. "Diese Regelung ist ein halbherziger Schritt, der das grundlegende Problem nicht löst: Menschen können nach wie vor wegen einer Bagatelle wie Fahren ohne Fahrschein kriminalisiert und inhaftiert werden", sagt Franziska Buresch, Fraktionsvorsitzende der Karlsruher Linken.

Unterschiedliche Meinungen in Freiburg

"Wir haben keinerlei Interesse, dass Fahrgäste ohne Tickets in Gefängnis kommen", stellt der Vorstand der Freiburger Verkehrsgesellschaft VAG, Oliver Benz, bei der Diskussionsveranstaltung am 14. Mai klar. Er will nicht stehenlassen, die VAG gehe rücksichtslos vor. "Wir versuchen, sehr sensibel mit dem Instrument der Strafanzeige umzugehen." Die Sensibilität scheint jedenfalls größer geworden zu sein. 2019 stellte die VAG 2.320 Strafanzeigen, 2024 noch 633. Benz stellt sich vor seine 15 Fahrkartenkontrolleur:innen, die Beleidigungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt seien. Er hält Strafanzeigen nach Paragraf 265a für sinnvoll, um seine MitarbeiterInnen in diesen Fällen zu schützen. Beim Publikum der Diskussion sorgt das für Widerspruch. Nötigung, Körperverletzungen und auch Urkundenfälschung ließen sich auch anders verfolgen.

Zur Frage, wie sensibel die Fahrkartenkontrolleur:innen vorgehen, gibt es ebenfalls unterschiedliche Auffassungen. Aus dem Publikum meldet sich ein Mann, der schildert, wie bei Minderjährigen, die ihre Regiokarten vergessen hatten, die Polizei gerufen worden sei. Das habe er mehrfach erlebt. "Ich finde das wahnsinnig übertrieben." Die überraschende Antwort des VAG-Freiburg Vorsitzenden: "Minderjährige winken wir immer durch." Eine junge Person im Rollstuhl widerspricht. "Ich hatte als Minderjährige meinen Schwerbehindertenausweis vergessen und musste mit aufs Polizeirevier." Oliver Benz berichtet, dass auch Personen ohne Meldeadresse bei Kontrollen durchgewunken würden, wie auch bei einer offensichtlichen Erkrankung. Man sammele auch Adressen von Wohnungslosenunterkünften, um hier von Anzeigen abzusehen.

"Das Ziel kann nicht sein, dass es in der Verantwortung der einzelnen Fahrkartenkontrolleur:innen liegt, zu entscheiden, wer wie einzustufen ist", sagt Meret Mingers vom Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen. "Das ist kein Problem, was sich auf individueller Ebene lösen lässt, es ist eine Grundsatzfrage."

Null-Euro-Ticket lässt weiter auf sich warten

Der Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit und der Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen fordern per Online-Petition den Freiburger Gemeinderat dazu auf, die Verkehrsgesellschaft anzuweisen, generell auf die Strafanzeigen zu verzichten, "denn Menschen ins Gefängnis zu stecken, die eine Fahrkarte für 2,90 Euro nicht zahlen können entspricht nicht der intendierten Stoßrichtung des Strafrechts, ist wirtschaftlich unsinnig und vor allem zutiefst ungerecht."

"Meine Sorge ist, dass der Kunde, der den Fahrschein bezahlt, kein Verständnis dafür hat, dass wir Sonderregeln leben", erklärt hingegen der VAG-Vorsitzende, der dabei insbesondere an Fahrgäste denkt, die ein nicht so hohes Einkommen haben. Die Lösung von Sozialarbeiter Frank Stocker, für den der öffentliche Nahverkehr zur sozialen Infrastruktur gehört: "Aus sozialer und ökologischer Sicht braucht es das Null-Euro-Ticket." Der Weg dorthin scheint noch weit zu sein und auch die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein lässt in Freiburg auf sich warten. Aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten hatten die Fraktion "Eine Stadt Für Alle" und die SPD ihren gemeinsamen Antrag mit der entsprechenden Forderung im Herbst letzten Jahres zurückgezogen. Und so können auch in Freiburg noch Menschen fürs "Schwarzfahren" in den Knast kommen. Wenn sie über die notwendigen Kontakte verfügen, haben sie vielleicht die Chance freigekauft zu werden. Am 12. Juni ist der nächste Freedom Day. Der Freiheitsfonds kauft an diesem Tag so viele Menschen wie möglich, die ohne Ticket gefahren sind, aus Gefängnissen frei. Wäre das Strafrecht in Sachen Schwarzfahren entnazifiziert, könnte der Freiheitsfonds auf die Gefangenenbefreiung verzichten.

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