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Fachkräftemangel und Ausländerbehörde Stuttgart

"Besser, ich wäre nicht gekommen"

Fachkräftemangel und Ausländerbehörde Stuttgart: "Besser, ich wäre nicht gekommen"
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Das Land Baden-Württemberg investiert Millionen, um Fachkräfte und Studierende aus dem Ausland anzuwerben. Doch die nicht funktionierende Stuttgarter Ausländerbehörde macht die Stadt unattraktiv. Viele Eingewanderte überlegen, wegzuziehen.

Nada Soueidi (Architektin, 40) ist gestresst, weil sie bald den gültigen Aufenthaltstitel ihrer Kinder auf ihren erneuerten libanesischen Pass übertragen lassen muss. Eine einfache Maßnahme, die früher ohne Termin möglich war, heute aber Wochen dauert. Ihre Erfahrungen mit der Ausländerbehörde in Stuttgart waren und sind schmerzhaft. Sie kam Ende Februar 2022 mit einem Visum zur Jobsuche für sechs Monate nach Deutschland. Ihr Mann und ihre beiden Söhne, damals noch 7 und 12 Jahre alt, sollten im Libanon warten, bis sie einen Job gefunden hat. Man hatte ihr versprochen, die Familie könne innerhalb von sechs Monaten wiedervereint sein. Gedauert hat es 18 Monate.

Die angespannte politische und Sicherheitslage im Libanon seit 2019 motivierte Nada Soueidi und viele andere Fachkräfte aus dem Libanon am Programm "Ingenieure für Deutschland" teilzunehmen. Nach der Hafenexplosion in Beirut im Jahr 2020 hatte sie ihre Leitungsstelle bei einem internationalen Bauprojekt von einem Tag auf den anderen verloren. Durch ihr Engagement in der evangelischen Gemeinde in Beirut hatte die Familie Kontakte zu deutschen Gemeindemitgliedern. Das sahen sie als Zeichen, dass Deutschland der beste Ort für einen Neuanfang sei.

"The Länd" braucht Ingenieure

Das Programm "Ingenieure für Deutschland" des gemeinnützigen German Academic Development Centers (GADC) rekrutiert qualifizierte Universitätsabsolvent:innen aus dem Libanon für eine berufliche Karriere in Deutschland. Die Fachkräfte erhalten kostenpflichtige intensive Sprachkurse in Beirut und Aachen, sowie Karrierecoachings an der RWTH Aachen. Das Programm ist eine Kooperation zwischen der Ingenieurskammer Baden-Württemberg in Stuttgart, dem Order of Engineers in Beirut und der Deutschen Botschaft im Libanon.  (ses)

Ein Jahr Bürokratie

Nach vier Monaten Coaching und Sprachkurs in Aachen und Interviews in gebrochenem Deutsch fand Nada Soueidi eine passende Stelle in einem Bauunternehmen in Stuttgart. Am 4. Juli 2022 unterschrieb sie den Arbeitsvertrag. Die Familie sollte im Libanon bei der deutschen Botschaft ein Visum für den Familiennachzug beantragen und wenige Monate später umziehen. Die Genehmigung des Visums sollte jedoch von Stuttgart kommen, weil die Mutter dort ihren Hauptwohnsitz hat. Von August 2022 bis Ende Januar 2023 musste die Familie zunächst auf einen Termin an der deutschen Botschaft warten. Nach der Antragstellung in Beirut lag die Akte dann über sechs Monate bei der Ausländerbehörde in Stuttgart. Erst im August 2023 erhielt die Familie endlich einen positiven Anruf von der Botschaft: Das Visum sei abholbereit. Nada Soueidi war nach sechs Monaten Ungewissheit in eine Depression gefallen.

Wenn sie von dieser Zeit erzählt, kommen ihr die Tränen. Sie verbrachte die Abende am Telefon mit ihrem achtjährigen Sohn und erzählte ihm Geschichten, bis er einschlief. Auf die Frage ihrer Söhne "Wann kommen wir zu dir?" konnte sie keine Antwort geben. Von der Ausländerbehörde erhielt sie nur wenige E-Mails mit der Bitte um Geduld aufgrund von Personalmangel. In ihrer Hilflosigkeit schrieb sie 20 E-Mails an die Ausländerbehörde, den Oberbürgermeister, die evangelische Kirche und zwei Rechtsanwälte. Die Antwort war überall dieselbe: "Wir können nichts machen."

Die gesamte Familie leidet

"Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht gekommen", sagt sie, wenn sie die Folgen der Trennung für ihre Familie betrachtet. Sie vergleicht sich mit anderen Kolleg:innen aus dem Programm, die es in anderen Städten in Deutschland viel einfacher mit der Ausländerbehörde hatten. Die Schuldgefühle der Mutter sind deutlich spürbar. Es war für die zwei Jungs in der Pubertät nicht einfach, anderthalb Jahre ohne ihre Mutter zu leben.

Soueidi wollte ihren Kindern eine bessere Kindheit ermöglichen als die, die sie selbst im Krieg im Libanon erlebt hat. Ihr Mann hatte akzeptiert, seine Karriere als Verkäufer in der Stahlindustrie aufzugeben, in der Hoffnung, in Deutschland eine Selbstständigkeit aufzubauen. Bislang hat er jedoch ohne Netzwerk keinen Weg gefunden. Die Integration in der Schule war für die beiden Kinder Nicolas (14) und Karl (10) schwer. Wenn es mit der Schule mal Schwierigkeiten gibt, fragt die Mutter sich, ob es einfacher für ihre Jungs geworden wäre, Deutsch zu lernen, wenn sie früher hätten kommen dürfen.

WhatsApp-Gruppe berät besser als die Stadt

Die Geschichte von Nada Soueidi ist kein Einzelfall in Stuttgart."Mein Aufenthaltstitel läuft morgen ab, und ich habe keine Rückmeldung zur Verlängerung erhalten", schrieben mindestens vier Personen vorige Woche in einer von Expats in Stuttgart organisierten WhatsApp-Gruppe. In dieser Gruppe tauschen ausländische Fachkräfte ihre Erfahrungen aus und helfen sich gegenseitig. Mittlerweile gibt es über 900 Mitglieder, und täglich kommen neue hinzu. Was alle verbindet, ist die Unsicherheit aufgrund der fehlenden Dienstleistung der Ausländerbehörde in Stuttgart. Viele in der Gruppe fragen, welche Stadt in der Umgebung eine bessere Ausländerbehörde hat, weil sie überlegen, umzuziehen.

Einreisen mit der Blauen Karte

Die Blaue Karte EU ist ein befristeter Aufenthaltstitel für qualifizierte Akademiker:innen aus Nicht-EU-Ländern, die mehr als rund 41.000 Euro jährlich verdienen. Die Vorteile dieses Aufenthaltstitels sind, dass er keine Genehmigung der Agentur für Arbeit braucht und sehr schnell genehmigt sein kann. Angehörige dürfen ohne Deutschkenntnisse einreisen und arbeiten. (ses)

Die meisten Menschen in dieser Gruppe haben die Blaue Karte EU, einen Aufenthaltstitel für qualifizierte Fachkräfte, mit vielen Privilegien gegenüber anderen Aufenthaltstiteln. Dass sie so in Unsicherheit leben müssen, finden sie unverständlich. Sie haben das Vertrauen in die Behörde verloren. Zwar stehen auf der Webseite der Ausländerbehörde viele Antworten auf die gängigen Fragen, sogar in mehreren Sprachen. Für dringende Angelegenheiten gibt es sogar eine Notrufnummer (115) und eine Beratung beim Welcome-Center soll bei einfachen Fragen helfen. Doch in der Praxis läuft es anders.

Angst um Jobs

"Ich warte seit einem Monat auf die Verlängerung. Auf meine E-Mails habe ich keine Antwort erhalten. Wenn ich die Telefonnummer 115 anrufe, sagen sie mir, ich solle warten. Auf den Notfalltermin habe ich keine Rückmeldung erhalten. Was könnte passieren, wenn mein Aufenthaltstitel morgen abläuft?", schreibt eine Person vorige Woche in der Gruppe in der Hoffnung, von anderen Tipps zu bekommen, damit sie jetzt ihren Job nicht plötzlich verliert und wegen illegalen Aufenthalts ausreisen muss. Die Antwort in der WhatsApp-Gruppe ist meistens, dass die Behörde am letzten Tag oder ein paar Tage später eine Fiktionsbescheinigung (vorläufige Verlängerung) ausstellt. Wenn das nicht passiert, besteht in der Tat die Gefahr, dass der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag auf Pause stellt und erstmal kein Gehalt mehr kommt.

Aus Mangel an Personal erteilt die Ausländerbehörde der Stadt Stuttgart meistens nur Fiktionsbescheinigungen anstatt gültige Aufenthaltstitel. Diese werden nach Beantragung von Notfallterminen erstellt, die innerhalb der letzten sieben Tage vor Ablauf des Visums gebucht werden dürfen.

Die Kammern helfen

Die Stuttgarter Ausländerbehörde kooperiert seit September 2023 mit der Handwerkskammer (HWK) und der Industrie‐ und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart im beschleunigten Fachkräfteverfahren. IHK und HWK unterstützen die Mitgliedsunternehmen, beraten, koordinieren und prüfen vorab die Unterlagen, um den Prozess zu verschlanken. (ses)

"Ich bin fertig mit dem Studium, habe eine neue Stelle gefunden und muss bald anfangen. Aber der Arbeitgeber braucht eine Arbeitserlaubnis, und die Ausländerbehörde meldet sich nicht," schreibt ein Absolvent, der sein Studium frisch abgeschlossen hat. Da helfe vielleicht die Industrie- und Handelskammer (IHK), schreibt einer zurück.

Druck hilft offenbar

Die IHK übernimmt seit vorigem Jahr die Aufgabe, Unterlagen zu prüfen, um Unternehmen bei der Einstellung von Fachkräften zu helfen. Doch nicht alle Student:innen finden schnell eine Arbeit nach dem Studium. Falls sie trotzdem da bleiben, was bei den Meisten der Fall ist, müssen sie einen Aufenthaltstitel zur Jobsuche beantragen. Und da wird es knifflig, wenn man keine große Summe auf dem Konto nachweisen kann.

Das ist der Fall bei George Tavgazov (32). Ab 2021 hat er ein Masterstudium in Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule in Ingolstadt absolviert. Das war für den gebürtigen Armenier die günstigste Möglichkeit zu studieren, da in Bayern keine Studiengebühren für ausländische Studierende anfallen – in Baden-Württemberg müssen Nicht-EU-Studierende 1.500 Euro pro Semester zahlen. Im April 2023 ist Tavgazov für ein Praktikum bei Bosch nach Stuttgart umgezogen. Durch Praktika sammelt er Erfahrung und sichert sein Leben ab, denn seine Familie kann ihn nicht unterstützen.

Seit Ende seines Studiums im Juli schreibt er nur Bewerbungen. Er hat bis jetzt aber keine einzige Einladung zu einem Bewerbungsgespräch bekommen. Warum, ist ihm rätselhaft. Sollte es etwa daran liegen, dass Tavgazov sein Bachelor-Studium in Russland gemacht hat? Wie auch immer, nun, nach vier Jahren in Deutschland bleibt nur ein Weg: einen Aufenthaltstitel zur Jobsuche für sechs Monate zu beantragen. Doch die Mittel dafür fehlen, und solange ihm keine neue Erlaubnis erteilt wird, darf er mit dem Aufenthaltstitel für Student:innen nur noch wenige Tage in diesem Jahr arbeiten.

Anfang August schrieb er an die Ausländerbehörde, dass er sein Studium abgeschlossen hat und nun eine Beratung zu seinem Status benötigt. Keine Antwort. Auch im Stuttgarter Welcome-Center bekam er keine konkrete Hilfe. Auf Empfehlung von Kontext hat George beim Regierungspräsidium Stuttgart, Referat 15.1, um Unterstützung gebeten und dessen Nachhaken in Stuttgart hat offenbar geholfen. Binnen drei Tagen meldete sich die Ausländerbehörde bei ihm und forderte einen Nachweis über Ersparnisse oder Erwerbstätigkeit an. Einen Arbeitsvertrag für einen Minijob hat er schon vorgelegt. Er hofft nun auf eine schnelle Bearbeitung seines Antrags, damit er nach allem, was er hier erreicht hat, nicht perspektivlos ausreisen muss. Das wäre dann wieder eine Fachkraft weniger.

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