Anne benötigt viel Flüssigkeit, also braucht sie viele Windeln. Es ist nicht so einfach, den individuell passenden "aufsaugenden Inkontinenzartikel", wie es im Krankenkassendeutsch heißt, zu finden. Einen passenden hatten die Hofmanns vor einigen Jahren entdeckt: bestimmte Windeln der Firma Hartmann und zwar sechs Stück pro Tag. Bisher hat die TK das bezahlt, doch mit dem Jahreswechsel hat sich für die Kasse offenbar etwas an Annes Windelbedarf geändert. "Was glauben die?", fragt Ursula Hofmann. "Dass Anne jetzt weniger pinkelt? Oder meinen die, dass Anne jetzt, wo sie volljährig ist, arbeiten geht und Geld verdient?" Die ausgebildete Hebamme ist stinksauer. Zumal das Prozedere nun schon mehr als sechs Wochen dauert. Sechs Wochen, in denen Hofmanns die Windeln selbst zahlen, bislang knapp 200 Euro.
Glauben Kassen den Ärzten nicht?
Anfang Januar hatte Ursula Hofmann wie gewohnt bei der Firma Hartmann neue Windeln bestellt. Nichts passierte. Weil die erfahrene Frau ahnt, was auf sie zukommt, führt sie ein detailliertes Protokoll über die anschließenden Telefonate und Briefwechsel. Auf Nachfrage bei Hartmann erklärte ihr die Firma, das Rezept sei noch nicht von der TK genehmigt, deswegen dürfe sie keine Windeln verschicken. Also ein Anruf bei der TK. Dort ist ein Mitarbeiter erstaunt und verspricht, er werde den Versand klären. Dass der MD eingeschaltet wurde, erfährt Ursula Hofmann nicht. Die TK ruft am selben Tag wieder an: Die Firma Hartmann dürfe nur aufzahlungsfreie Windeln liefern, die Kostenfrage sei noch nicht geklärt. Hofmann erläutert, sie habe mittlerweile selbst passende Windeln gekauft, weil keine mehr da waren. Die TK-Frau sagt, das bezahle die Kasse nicht. Dafür hätte Frau Hofmann vorab einen Antrag auf Kostenübernahme stellen müssen, allerdings dann nur ein zuzahlungsfreies Produkt kaufen dürfen. Aber jetzt würde ihr die Firma alternative, zuzahlungsfreie Produkte schicken. Hofmann: "Ich erklärte der Dame von der TK, diese Produkte kenne ich schon und die würden nicht funktionieren." TK: Die Vorgaben seien nun mal so.
16. Januar: Ein Brief der TK mit einem Formular für den Medizinischen Dienst trifft ein. Hofmanns sollen bis zum 20. Januar – also binnen vier Tagen – Unterlagen schicken. Angefordert werden Unterlagen, die besagen, aus welchem Grund die Versorgung mit den bestimmten Windeln notwendig sei; welche Produkte wurden bereits getestet und mit welchem Erfolg? Zudem soll ein Miktionsprotokoll angefertigt werden – Ursula Hofmann soll also aufschreiben, wann und wie viel Liter Anne trinkt, wann und wie viel Liter sie pinkelt. Zudem möchte der MD eine ausführliche ärztliche Stellungnahme.
Hofmann erklärt: "Das alles habe ich bereits im November 2019 auf Anforderung der TK gemacht. Damals habe ich alternative Windeln getestet, auch die Schule hat aufgeschrieben, wie schlecht die Dinger waren. Ich habe denen damals Fotos geschickt von den verklumpten Windeln und den durchnässten Hosen. Geantwortet hatte die TK mir darauf nicht, aber Anfang 2020 meldete sich die Firma Hartmann und sagte, die Kasse habe der doppelten Pauschale zugestimmt und wir könnten wieder mit den bekannten und bewährten Windeln beliefert werden. Warum jetzt alles nochmal?" Sie hat dem MD die Unterlagen von vor einem Jahr nochmal geschickt. Inklusive Windel- und nasse-Hosen-Fotos. Seitdem wartet sie.
TK arbeitet nach Vorschrift
Kontext hat bei der TK gefragt, warum jetzt wieder geprüft werde. Das beantwortet deren Pressestelle nicht. Stattdessen heiße es: "Zur Windelversorgung hat die TK Verträge mit Sanitätshäusern, bundesweiten Anbietern und Apotheken abgeschlossen. Somit stellen wir flächendeckend die Versorgung der Versicherten sicher und vereinfachen den Prozess durch die direkte Vertragspartnersuche." Und: "Da wir verantwortungsvoll mit Versichertengeldern umgehen, sind Einzelfallprüfungen manchmal unumgänglich. Es kann aber nicht von einer systematischen Infragestellung ärztlicher Verordnungen die Rede sein." Zum Fall Anne Hofmann könne die TK erst etwas sagen, wenn der Medizinische Dienst sich geäußert habe. Die Rückmeldung des MD "soll in den nächsten Tagen bei uns eingehen". Ursula Hofmann erhielt mittlerweile von der TK einen Brief mit der Nachricht: "Wir bitten Sie noch um etwas Geduld. Vielen Dank."
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Carmen Lechleuthner
am 11.02.2021