Ein Mensch wagt die Flucht übers Mittelmeer, gerade noch rechtzeitig bewahren ihn Seenotretterinnen vor dem Ertrinken. Kurz nach seinem Nahtoderlebnis steht er den bewaffneten Grenzschützern von Frontex gegenüber, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zitieren: "Eines ist klar, wir müssen die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren. Daran arbeiten wir mit Nachdruck." Hier, im antimilitaristischen Theaterstück des Stuttgarter OTKM, werden die Fluchterfahrungen verzweifelter Menschen einigen migrationspolitischen Aussagen der jüngeren Vergangenheit gegenübergestellt. Da darf auch Heimatminister Horst Seehofer nicht fehlen, der 2011 ausführte, dass sich die CSU "notfalls bis zur letzten Patrone" gegen Einwanderungsversuche in die deutschen Sozialsysteme sträuben werde.
Für die OTKM-Aktivistin Berit, die ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, ist das ein anschauliches Beispiel für eine militarisierte Rhetorik, die das Fremde als Bedrohung darstellt und dem Heimischen das Recht zuspricht, sich mit Waffengewalt dagegen zu verteidigen. "Wir haben viel über neue Protestformen nachgedacht", berichtet die 27-Jährige. Und so sind sie beim OTKM neben Flashmobs und Demonstrationen, Infoflyern und Aktionen des zivilen Ungehorsams auf das antimilitaristische Theater gekommen. Neben Politikerinnen kommen hier auch Peter Weiss und insbesondere Bertolt Brecht ausgiebig zu Wort: "Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?"
Die Handlung des etwa zehn Minuten langen Stücks ist dabei recht schlicht und plakativ: ein Flüchtender wird gerettet und an der europäischen Grenze abgewiesen, dann wirft eine solidarische Revolution alle Verhälntisse um, in denen der Mensch geknechtet, verachtet und verlassen ist. Die Stärke der Aufführung besteht darin, politische Bigotterie herauszuarbeiten: Einerseits misst die europäische Zivilisation dem Schutz der individuellen Freiheit einen hohen Stellenwert zu. Andererseits wird das Mittelmeer durch konsequente Abschottung zum Massengrab, während die EU private Rettungsaktionen gegen das Sterben kriminalisiert und verhindert.
Das Leben in Elite-Nationen scheint mehr wert zu sein
Der Politikwissenschaftler Johannes Krause, der 2009 über den Werdegang "Von der Geburt eines Territorialstaats zum Europäischen Grenzregime" promovierte, sprach diesbezüglich bereits 2013 von einer "erstaunlichen schizophrenen Leistung" des europäischen Moralbewusstseins: "Es vermag die universellen Menschenrechte, auf denen die politische Philosophie des modernen Europas gründet, zu vereinbaren mit einer (im Kern rassistischen) Doppelmoral, nach der das Leben von Angehörigen der Elite-Nationen mehr Wert ist als das der fernen, armen Anderen."
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