Donnerstag vor Weihnachten, halb neun, in der Küche der Gottlieb Daimler Schule 1. "Vorsicht, heiß!", ruft Rashid, der Afghane, und schwingt die Pfanne an Buba, dem Gambier, vorbei auf den Tisch, es zischt und brodelt und duftet nach Frühstück, nach Kaffee und Lebkuchen. Rund um den Tisch sitzen die Schüler, mit denen wir bis Mitte des Jahres unser Filmprojekt gemacht haben. Khaled, ein Syrer, hat sich eine goldene Weihnachtsgirlande umgebunden, Arlind aus dem Kosovo und die Klassenlehrerin Ulrike Deyhle tragen Rentiergeweihe mit Glöckchen auf dem Kopf, 14 Schülerinnen und Schüler sitzen da, kichern, lachen und futtern. Die meisten kennen wir. Manche sind neu dazu gekommen. Andere fehlen.
Eine Syrerin und ein Syrer sind nach den Sommerferien auf ein Sindelfinger Gymnasium gewechselt. Ein Afrikaner hat die Schule verlassen müssen, weil er nicht zurecht kam und den anderen Angst machte. Ein Mädchen, eigentlich ein eher weltlicher, quirliger Teenager, kommt nur noch mit Kopftuch zur Schule. Ihre Mutter wurde krank und irgendwer hat ihr eingeredet, das käme von zu laxem Glauben. Leonid, ein kleiner Kosovare, ist abgeschoben worden. Morgens um fünf Uhr kam die Polizei in seine Wohngruppe. "Er war nicht in der Schule", sagt Jakov, der Kroate. Am Abend kam eine Nachricht über Whats App. "Er hat uns Grüße geschickt. Scheiße ist das, große Scheiße." Drei Tage habe die Klasse gebraucht, um den Vorfall zu verarbeiten, erzählt die Klassenlehrerin. Alle rund um diesen weihnachtlich gedeckten Tisch mit den Lebkuchenbrezeln und den Zweigen hoffen seitdem, dass es sie nicht auch trifft. Nur wenige in dieser Klasse haben einen Asylstatus.
Fast alle haben mittlerweile einen Praktikumsplatz, als Klempner, Maurer, einer ist bei Phillips untergekommen, der Afghane Rashid hat schon eine feste Zusage für eine Ausbildungsstelle als Schweißer. Arlind, ein immer gut gelaunter Kerl, macht ein Praktikum als Erzieher im Kindergarten. Anfang 2017 ist die Anhörung für sein Asylverfahren, "das große Interview", sagt er. Er hat Angst davor, dass es ihm, seinen Eltern, seinem Bruder genauso ergeht wie dem Klassenkameraden.
Die Schulleitung und die Lehrer arbeiten an einem Konzept, wie sie den Unterricht für die zukünftigen Berufsschüler gestalten können. Auch wenn viele Schüler schon gut Deutsch sprechen, sind die Prüfungsfragen oft noch zu schwer formuliert und voller Worte, die selbst Deutschen nicht geläufig sind.
Die Schule hat mit dem Schuljahr 2016/2017 eine neue Sprachklasse dazubekommen und eine ausschließlich für jugendliche Analphabeten eingerichtet. Die Lehrer besuchen regelmäßig Fortbildungen zum Thema Flucht, zuletzt befassten sie sich drei Tage lang mit Islamismus und Rechtsextremismus. Rechte Tendenzen, sagt Ulrike Deyhle, machen ihr auch in ihrem eigenen, privaten Umfeld zu schaffen. Ihr Freundeskreis ist kleiner geworden, seitdem sie auch Flüchtlinge unterrichtet.
Khaled, der Syrer, arbeitet mittlerweile für die Diakonie als Übersetzer in der Flüchtlingshilfe. Am liebsten würde die ihn vom Fleck weg als Vollzeitkraft einstellen, weil er unersetzbar geworden ist, er, der 21 Menschen im Krieg in Syrien verloren hat. "Meine Heimatstadt gibt es nicht mehr, Aleppo gibt es nicht mehr, Homs gibt es nicht mehr", sagt er bedrückt. Khaled sieht den Krieg im Fernsehen, liest im Internet über ihn, hört ihn in Telefonaten mit syrischen Freunden. Seine Mutter sitze nur noch zuhause und spreche ohne Unterlass mit sich selbst. Stress-Symptom, sagt ihr Psychologe. Nach dem Anschlag in Berlin haben Khaled viele Menschen gefragt, wie er dazu stehe. "Was soll ich da sagen?", fragt er bedrückt, aber auch ein bisschen wütend. "Ich bin Moslem, ich trage einen Bart. Aber ich bin nicht ISIS."
Steffen Braun und ich werden im Januar 2017 ein neues Filmprojekt starten. Dieses Mal arbeiten wir mit der Alphabetisierungsklasse der Gottlieb-Daimler-Schule zusammen und werden in Kontext regelmäßig über das Projekt berichten.
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