Das hat Ihnen den Vorwurf eingetragen, Sie würden Demenzkranke isolieren.
Was ich tat, war gegen die herrschende Ideologie, ja. Aber das hat mich noch nie gekümmert, wenn ich von etwas überzeugt war. Wir haben gesehen, dass wir zufriedene Menschen im Haus, zufriedene Angehörige und viel weniger Stress haben. Und heute hat sich die Ideologie ja geändert.
"Sonnweid" ist in drei Einheiten eingeteilt, leichte, mittlere, schwere Fälle.
Die leichten Fälle leben alle noch zu Hause. Die Fälle im mittleren Krankheitsstadium leben bei uns in einer Familienstruktur, wie in einer Großfamilie. Das sind alle die, die noch imstande sind, gewisse soziale Regeln einzuhalten, etwa noch ein Gefühl für Mein und Dein, für soziale Gemeinschaft haben. In der kleinräumigen Struktur, in der sie leben, erkennen sie bestimmte Muster aus ihrem Leben wieder, darin fühlen sie sich meistens sehr wohl. Sie managen den Haushalt, kaufen ein, kochen miteinander.
Und danach?
Mit der Zeit verschwindet das Bewusstsein für soziale Normen, damit verschwindet auch die Möglichkeit, etwas zu tun. Nichtstun ist in Ordnung, aber ich darf den Menschen nicht mit dem konfrontieren, was er nicht kann. Ich kann also nicht sagen, deck den Tisch, wenn er dazu nicht mehr fähig ist, aber ich kann sagen, halt das Besteck. Der Verlust von sozialer Kompetenz und von Körperlichkeit - wenn der Mensch sich nicht mehr selber pflegen kann, führt meistens zum Übergang in den Bereich mit den Menschen mit einer schweren Demenz. Dort stellt niemand mehr Ansprüche an sie.
In welcher Welt leben diese Menschen?
Der demente Mensch liest nicht Zeitung und erzählt dann davon. Er hat keinen Bezug mehr zur aktuellen Welt, er lebt häufig in einer anderen Welt. In seinem Erleben fehlen ja auch oft 30, 40, 50 Jahre. Wir haben jetzt eine Frau aus Ägypten im Haus, die lange in der deutschen Schweiz gelebt hat. Mit einem Pfleger, der ebenfalls aus Ägypten kommt, spricht sie jetzt wieder Arabisch. Die Erinnerung daran, die 50 Jahre lang verschüttet war, kommt jetzt wieder.
Was passiert, wenn Menschen nicht mehr mobil sind?
Die Menschen, die sehr viel Pflege brauchen, betreuen wir in einer "Pflegeoase". Das ist ein großer Raum mit acht beziehungsweise drei Betten, in dem die Menschen Kontakt zu einem zentralen Tisch, aber auch untereinander haben. Wenn jemand ruft, bekommt er eine Antwort, man hört den anderen reden, man ist immer Teil einer Gemeinschaft. Von Einzelzimmern reden wir ja erst seit 50 Jahren, vorher waren wir immer Teil einer größeren Gemeinschaft. Wir gehen davon aus, dass in dieser Phase die Menschen wieder in diese Gemeinschaft eintauchen und der individuelle Raum keine große Rolle mehr spielt.
Sie sperren nicht die Tür zu, binden die Menschen an oder nötigen sie dazu, Gedächtnisübungen zu machen?
Gedächtnisübungen sind gemein, weil sie in einer bestimmten Phase den Menschen vorführen, was sie nicht können. Wenn Menschen dort, wo sie sind, willkommen sind, gibt es keinen Grund, sie einzusperren. Wenn sie nach draußen wollen, können sie nach draußen und im Garten, der von einem Zaun umgeben ist, durch das Gras oder auch durch den Schnee laufen und sich entspannen. Wir versperren auch die Schränke nicht mehr. Je größer die Freiheit, haben wir bemerkt, umso weniger passiert – es räumt niemand mehr Schränke aus.
Und Sie müssen dann das Chaos ertragen, das durch die lockeren Regeln im Haus entsteht?
Es ist ein Chaos, ja, aber trotzdem gibt es eine unausgesprochene Struktur. Es gibt Dinge, da halten sich die Menschen einfach dran. Wir haben eine Frau im Haus, die nur Dekorationen für die öffentlichen Räume macht, wahre Wunderwerke. Das Interessante ist: Schöne Dinge werden nicht zerstört. In den Heimen wird ja der Sinn für Schönheit in der Regel nicht befriedigt – dort gibt es nur einen Sinn für Zweckmäßigkeit. Bei uns werden die Menschen mit großer Freundlichkeit empfangen. Räumlich wie innerlich.
5 Kommentare verfügbar
Peter Romaker
am 14.10.2016Das Gute ist ja das sich EinAlles ständig verändert und wenn es auch nur wenige sind die sinnvolle Richtungen vorgeben ist doch der Wert einfach unbezahlbar.