Deshalb sind alle Betriebe mit mehr als neun Beschäftigten zur Gegenfinanzierung verpflichtet. Eingenommen werden 2,2 Millionen Euro, um den Nahverkehr kostendeckend zu gestalten, den Fuhrpark zu erneuern oder Minibusse im Bedarfsfall für Stadtrandbewohner fahren zu lassen. Die Fahrgastzahlen haben sich binnen weniger Monate verdoppelt. Weil zugleich das Straßenbahnnetz ausgebaut wird, darf die Gemeinde eine zusätzliche pauschale Unternehmenssteuer erheben. Experten sind überzeugt, dass das Projekt auf Dauer gesichert ist. Zudem wurden Arbeitsplätze geschaffen und neue Busfahrer und Busfahrerinnen eingestellt. Eine Kehrseite der Medaille ist die Tatsache, dass die Freifahrt einen Anreiz bietet, vom Rad auf den Bus umzusteigen oder weniger zu Fuß zu gehen – was nichts zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes beiträgt, die Kosten aber hoch hält.
Im belgischen Hasselt funktioniert der Nulltarif, ebenfalls steuerfinanziert, seit 1996 stabil. Das ÖPNV-Angebot wurde allerdings schon vor Einführung erheblich ausgeweitet und kombiniert mit weitreichenden Maßnahmen, darunter die komplette Sperrung der Innenstadt für den Individualverkehr und der konsequente Rückbau von Durchgangs- oder anderen mehrspurigen Straßen. Und auch da gibt's unerwünschte Umsteiger. "Unabhängig von den 33 Prozent induziertem Neuverkehr muss in Hasselt allerdings festgestellt werden, dass trotz der großen Anstrengungen und der partiellen Erfolge letztlich der Umstieg des umweltfreundlichen Fuß- und Fahrradverkehrs auf den ÖPNV größer war als vom MIV auf den ÖPNV", schreibt der VCD, der aus ganz grundsätzlichen Erwägungen einer Steuer- die Beitragsfinanzierung vorzieht: "Aufgrund der Steuersenkungsprogramme der letzten zwei Jahrzehnte, von denen vor allem Besserverdienende profitierten, habe sich das private Vermögen zwischen 2001 und 2009 verdoppelt, "während das staatliche Nettovermögen um 46 Prozent abnahm, mit allen Konsequenzen für die finanzielle Investitionsfähigkeit des Staates in die kommunale Infrastruktur".
Eine City-Maut für die freie Fahrt mit dem ÖPNV
Verkehrsminister Hermann hat eine "Grundlagenuntersuchung zur Drittnutzerfinanzierung" in Auftrag gegeben. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich die Idee, wie in London könnten die Autofahrer, wie in Aubagne die Arbeitgeber oder wie in Wien doch die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Ebenfalls noch vor der Sommerpause will der grüne Minister damit ins Kabinett. Erst nach einer möglichen Wiederwahl 2016 soll den Städten und Gemeinden im Land aber die Möglichkeit eröffnet werden, eigene Wege zur Finanzierung einzuschlagen – unter Einschluss des Nulltarifs. "Uns geht es darum, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, ergänzende Finanzierungsinstrumente für den ÖPNV zu untersuchen", sagt sein Sprecher Edgar Neumann. Eine Festlegung in dieser Legislaturperiode sei allerdings nicht geplant, vielmehr sollten "aktuelle Debatten versachlicht" und "Entscheidungen vorbereitet werden", um "die Kommunen vor einem Finanzkollaps zu bewahren".
Für Tübingen sind verschiedene Modelle durchgerechnet. Eine Nahverkehrsabgabe von gut 100 Euro pro Kopf und Jahr könnte etwa schon ausreichen zur Finanzierung des Nulltarifs für gemeldete Bürger und Bürgerinnen, die sich immer mit dem Personalausweis identifizieren müssten. Und Palmer hat eine City-Maut prüfen lassen. "Wenn eine Einfahrt pro Tag nur einen Euro kostet, hätten wir ein Plus von netto 20 Millionen pro Jahr", erläutert der OB, "und das ist in etwa die Höhe der derzeitigen Gewerbesteuereinnahmen und mehr als die Grundsteuer."
Viele Fachleute warnen allerdings vor dem völligen Verzicht auf den Fahrschein, gerade in Städten wie in Tübingen, in denen der Anteil der Radfahrer und Fußgänger ohnehin schon hoch ist, und verlangen Maßnahmen mit Lenkungswirkung. Winfried Hermann treiben außerdem prinzipielle Bedenken um. "Ich bin dagegen, dass den Leuten signalisiert wird, sie führen gratis", sagt der passionierte Radfahrer, der den Dienstwagen so oft stehen lässt wie kein anderer im Kabinett. Das ÖPNV-Angebot sei für Städte und Gemeinden "verdammt teuer" und belastet, wenn auch signifikant weniger als der Individualverkehr, ebenfalls die Atmosphäre.
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Florian S.
am 27.05.2015