Jeden Montag um 18 Uhr - von Ausnahmen abgesehen - seit Anfang 2013 versammeln sich mindestens 1000, oft mehrere tausend Personen auf dem Stuttgarter Marktplatz. Die Bürgerbewegung gegen den Tiefbahnhof scheint damit am richtigen Ort angekommen: dort, wo die Entscheidungen getroffen werden. Einerseits bildet der Marktplatz, mit dem Schlossplatz und der verbindenden Achse über Stiftskirche und Schillerplatz, eine Insel der Unveränderlichkeit in einem städtischen Umfeld, das sich nach Kriegszerstörungen und Modernisierung in den letzten zwanzig Jahren erneut radikal verändert hat. Die Nachkriegsbebauung steht bis hin zur Farbgebung unter Denkmalschutz. Unverändert bleiben auch die Orte der politischen Repräsentation der Stadt und des Landes. Das um 1900 erbaute Rathaus erhielt nach dem Krieg lediglich eine moderne Fassade. Alle anderen historisch bedeutenden Gebäude sind wiederaufgebaut worden, wenn auch im Fall des Neuen Schlosses 1960 die Entscheidung denkbar knapp ausfiel. Die Kontinuität scheint gewahrt. Nach wie vor erfüllt der Innenstadt-Kern seine identitätsstiftende Funktion.
Andererseits machen die tiefgreifenden Veränderungen, die sich im Stadtbild und im Gefüge des Handels vollziehen, auch vor dem Marktplatz nicht halt. Anfang April 2014 musste das beliebte Café Scholz schließen. Wenn ein weit auf den Platz ausgreifendes Café in bester Lage, wo ein Sitzplatz oft nur schwer zu finden war, nicht überlebt: ist da nicht etwas faul? Mehr als 20 000 Euro Miete sollen die Betreiber, Georg Scholz und Stephanie Benzing, monatlich berappt haben. Nun ist Thomas Sabo eingezogen, ein auf Silbergeschmeide spezialisiertes "internationales Lifestyle-Unternehmen, das Schmuck, Uhren und Beauty-Produkte für modebewusste Frauen und Männer herstellt." Mit 2600 Juwelieren, Fluggesellschaften und weiteren Partnern kooperiert Sabo und vertreibt seine Kollektionen über Internet und in 247 Läden weltweit. Zwei Häuser weiter links, an der Ecke zur Kirchstraße, wo seit 1833 "der" Spielwaren Kurtz ansässig war, befindet sich neuerdings eine "Boutique" von Nespresso: eine Nestlé-Tochtergesellschaft, die edlen Grand-Cru-Espresso in kleinen Alu-Kapseln samt dazu gehörigen teuren Maschinen anbietet und wie Sabo online ebenso wie in mehr als 300 Niederlassungen in allen Weltregionen vertreibt. Der Spielwarenhändler, an dem früher kein Kind in Stuttgart vorbei kam, hat sich auf eine verkleinerte Fläche an der Rückseite des Gebäudes zurückgezogen.
Kein Stein mehr auf dem anderen
Weiter im Gegenuhrzeigersinn bietet das Schweizer Unternehmen Schlossberg demnächst "Bettwäsche vom Feinsten". Der Schreibwarenladen Haufler am Markt, dort ansässig seit 1895, wird dagegen bald von der Bildfläche verschwinden. Nachdem Martz, Steinmann und Rehn bereits zwischen 2006 und 2009 das Handtuch warfen, verschwindet damit das letzte Schreibwarengeschäft aus der Stuttgarter Innenstadt. Das bereits im 18. Jahrhundert gegründete Haushaltswarengeschäft Tritschler und der seit 1949 bestehende Herrenausstatter Breitling bleiben dagegen fürs Erste bestehen. Und natürlich Breuninger, das Nobelkaufhaus, dessen breite Front vom Marktplatz bis an die Konrad-Adenauer-Straße reicht. Dahinter steht zur Zeit kein Stein mehr auf dem anderen. "Mit dem geplanten Dorotheen Quartier erhält die Stadt zwischen Alten Schloss, Rathaus und Markthalle ein zentrales Viertel zurück, das ihr die Geschichte entrissen hatte", steht auf der <link http: www.stuttgart.de item show _blank>Homepage der Stadt Stuttgart, so als ob dort vorher ein schwarzes Loch gegähnt hätte. Und noch mehr Lyrik: "eine Mischung aus ansprechenden Geschäften, gemütlichen Cafés, ausgesuchten Restaurants, innovativen Bars und kreativen Lounges [...], ebenso wie wertige Büros und Wohnungen."
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dichtbert
am 22.09.2014