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Eine Million Gründe

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In Stuttgart, Freiburg oder Karlsruhe auf die Straße zu gehen, um seinen Unmut über die AfD auszudrücken, ist wichtig. Aber nicht gefährlich. Klar, es kann hier und da mal zu verbalen Auseinandersetzungen kommen. Aber handgreiflich wird es in der Regel nicht. Im Osten der Republik ist das teils anders. Dort haben sich die Rechten etabliert, gelten als normale Partei und gerade in Kleinstädten und Dörfern überlegt jede und jeder Einzelne sich wahrscheinlich mehrmals, ob er oder sie öffentlich gegen Rechtsextremismus auftreten will. Aber es gibt sie natürlich, die Demokratinnen und Demokraten, die ihren Ort nicht unwidersprochen aufgeben wollen, berichtet der Journalist Jacob Queißner aus Gera. Am kommenden Sonntag werden in Thüringen Stadträte und Oberbürgermeister gewählt und in Gera, der 96.000-Einwohner:innen-Stadt in Südthüringen, geht die Zivilgesellschaft ebenso regelmäßig auf die Straße wie die Rechten, die dort jeden Montag so tun, als würde die Stadt ihnen gehören.

Damit es im Südwesten Deutschlands gar nicht erst so weit kommt, dass Rechtsradikale im Wochentakt aufmarschieren, organisiert das Stuttgarter "Netzwerk gegen rechts" Veranstaltungen für eine bessere Demokratie. Die Aktiven wollen einerseits über die AfD aufklären. Weil Politik aber daneben auch Freude machen soll, hatte die Gruppe für vergangenen Samstag zu einem Fest auf dem Stuttgarter Schlossplatz gerufen. Über die Zahl der Beteiligten kursieren abweichende Angaben. Kabarettist Max Uthoff, der als einer von vielen auf der Bühne stand, sagt es so: "Die Polizei zählt 20 Leute, die Veranstalter 40.000." (Tatsächlich sprechen die Veranstalter von etwa 2.000 Personen.)

Neben Uthoff sorgte das Tanzorchester Urbanstraße für gute Laune, später traten auch Rapper Max Herre und Sängerin Joy Denalane auf ("Esperanto"). Weil Rechtsradikale, erstarkender Autoritarismus und die wachsende Bedrohung durch Faschismus kein Anlass für uneingeschränkte Heiterkeit sind, ging es allerdings auch ernsthaft zu. Schauspieler Walter Sittler gruselte die Zuhörer:innen mit AfD-Zitaten und machte Mut mit Erich Kästner, Tanja Thomas von der Uni Tübingen erinnerte an rechte Gewalt. Der Soziologe Klaus Dörre von der Uni Jena betonte, dass Demokratiefeinde dann Zulauf bekommen, wenn und weil die Politik unsozial ist (hier seine Rede in voller Länge).

Neben der akademischen Einordnung wurden auch persönliche Sichtweisen auf den Rechtsruck auf die Bühne gebracht. Die von Serkan Eren etwa, der die internationale Hilfsorganisation Stelp gegründet hat und leitet. Er kennt viele Länder, aus denen Menschen fliehen, aus eigener Erfahrung und weiß, dass sie sich nicht auf lebensgefährliche Routen begeben, um sich die Zähne richten zu lassen. Auch die Hetze anderer Parteien findet er in dieser Hinsicht manchmal schlimm. Den Schlaf geraubt hat ihm nun allerdings die Stuttgarter AfD, berichtete er. Das Plakat des AfD-Gemeinderatskandidaten Thomas Rosspacher mit der Parole "Schnelle Remigration schafft Wohnraum" entsetze ihn, erklärte er sichtlich berührt.

Nun ist Wohnungsnot tatsächlich ein essenziell wichtiges Thema für viele Menschen – für das es allerdings keine einfachen Lösungen gibt. Seriöse Politik versucht deshalb, seriöse Antworten zu geben, die allesamt leider nie schnell zu mehr Wohnungen führen, wie der Kollege Florian Kaufmann anhand der Wahlprogramme in Karlsruhe schildert.

In Baden-Württemberg stehen die Kommunalwahlen am 9. Juni an. Noch zweieinhalb Wochen lassen sich die Kandidierenden relativ einfach vor Ort treffen. Wer also noch unsicher in seiner Wahlentscheidung ist, kann nun die Chance nutzen und gezielt nachfragen, wie die eigene Stadt sich besser gegen Hitzewellen wappnen kann, die Schulen sanieren will und die Ausländerämter besser ausstatten möchte. Und dabei an Max Uthoff denken. Der betont angesichts diverser Gegenwartskrisen: "Es gibt eine Million Gründe, frustriert zu sein, aber kein einziger rechtfertigt die Wahl von Faschisten."

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