Blitzgescheite Zahlenfüchse bewältigen die Addition ganz ohne Rechenschieber: Zählt man 36,9 und 17,8 zusammen, ist die Summe größer als 43,2! Damit sind die Ermittlungen abgeschlossen: Hätte Hannes Rockenbauch (SÖS), der Kandidat mit dem sehr viel schlechteren Ergebnis, zugunsten von Marian Schreier (SPD-nah) zurückgezogen, hätte ein Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) womöglich verhindert werden können. So weit, so plausibel. Und tatsächlich, der umgekehrte Fall wirkt weitaus weniger wahrscheinlich: dass ein Rockenbauch im Zweier-Duell mit Nopper siegreich hervorgegangen wäre – schließlich ist der Mann, der mit Hausbesetzern sympathisiert, für große Teile der Stadtgesellschaft schlechterdings unwählbar.
Für viele enttäuschte Schreierfans, NoppergegnerInnen und insbesondere den sozialdemokratischen Nachwuchs steht damit der Sündenbock fest: "Herzlichen Glückwunsch, Rockenbauch", twittert exemplarisch der aufstrebende Jungsozialist Titus Heyme (laut Social-Media-Biografie ein sozialliberaler Gründer): "Mit der Kandidatur einen Sieg des progressiven Lagers von Marian Schreier verhindert und dafür gesorgt, dass die eigenen Inhalte in den nächsten 8 Jahren minimal repräsentiert sind. Ego über Wählervotum gestellt." Fürchterliche Sache, diese Ego-Trips. Aber Moment mal. War da nicht auch noch eine Dritte im Bunde? Eine, die im ersten Wahlgang das zweitbeste Ergebnis eingefahren hat? Eine, deren durchaus plausible Chancen in dem Moment verpufften, als ein Kandidat mit weniger Prozenten auf seiner Kandidatur beharrte?
Die Stuttgarter Wahl war in dem Moment entschieden, als Marian Schreier sich ohne Rücksicht auf Veronika Kienzle (Grüne) zum einzig aussichtsreichen Kandidaten links von der CDU ausgerufen hat, Hannes Rockenbauch ihm das machtpolitische Spielchen nicht durchgehen lassen wollte und sich das tendenziell "öko-soziale Lager" heillos zerstritten hat – nachzulesen in "Freie Fahrt für einen Dinosaurier", Kontext-Ausgabe 502. Nun ist das Erwartbare eingetreten, und ebenso erwartbar wie das Wahlergebnis läuft die Legendenbildung, wer's verbockt hat. Zur Wahrheit gehört, dass Rockenbauchs Festhalten an seiner Kandidatur den Wahlsieg Noppers sehr begünstigt hat. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es Schreier nicht gelungen ist, das Mitte-bis-linke-Stuttgart hinter sich zu einen. Zur Erinnerung: Weder Grüne noch SPD haben sich zu einer Wahlempfehlung für den Jungen, der's nicht konnte, durchgerungen. Der eine Kandidat polarisiert durch Positionen und Starrsinn – der andere, weil er es binnen weniger Wochen vollbracht hat, die Basen zweier Parteien zu spalten.
Ein mindestens ebenso unrühmliches Bild geben die Grünen ab, die mit Fritz Kuhn den vielleicht unbeliebtesten Amtsinhaber der Republik stellen, aber bis zum dürftigen Abschneiden ihrer Kandidatin im ersten Wahlgang – für die Egoist Rockenbauch zurückgezogen hätte – ohne den Hauch eines Zweifels vom Machterhalt ausgegangen sind. Eine tragische Komponente bekommt das Stuttgarter Intrigantenstadl durch den Ernst einer eskalierenden Wirtschafts- und Klimakrise. Denn wie Rockenbauch zutreffend festgestellt hat: Wir können uns den Luxus nicht leisten, erst in acht Jahren beim Umweltschutz richtig ranzuklotzen. Dass auch große Schritte möglich sind, zeigt sich aktuell in der näheren Nachbarschaft: In Tübingen haben Gemeinderat und OB jüngst beschlossen, schon 2030 klimaneutral zu sein.
Was hingegen in der Landeshauptstadt bleibt, sind ein Scherbenhaufen, einseitige Schuldzuweisungen, sich entlarvende Opportunisten. Und ein sehr trauriges Bild vom CDU-fernen Stuttgart, das leichtes Spiel hätte haben können, es aber Frank Nopper sehr einfach gemacht hat. Der ist mit seiner jovialen Fröhlichkeit ein Glücksfall fürs Stadtmarketing und für die Freunde investorengetriebener Baupolitik. Ob es ihm ebenso gut gelingen wird, die Klimabilanz der Stadt zu verbessern und die Wohnraumkrise anzugehen? Eine gewisse Skepsis scheint berechtigt.
6 Kommentare verfügbar
Judith Vowinkel
am 03.12.2020