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Es wird zu wenig gestreikt

Es wird zu wenig gestreikt
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Das Tabu des politischen Streiks in Deutschland muss gebrochen werden. So Detlef Hensche in einem Vortrag bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahr 2012, der mittlerweile in einem Buch des VSA-Verlags erschienen ist. Titel des Buches: "Politische Streiks im Europa der Krise".

Daimler-Arbeiter vor dem Werksgelände in Sindelfingen. Foto: Martin Storz

 

Das wiederbelebte Interesse am politischen Streik ist kein Zufall. Seit geraumer Zeit erleben wir, wie die Staaten der europäischen Wertegemeinschaft in bisher unbekanntem Ausmaß in soziale und demokratische Rechte eingreifen, ja ihre Verfassung partiell außer Kraft setzen bzw. setzen lassen. Die europäische wie die nationale Politik verordnet den Bevölkerungsmehrheiten in der Verblendung neoliberaler Dogmatik ein Austeritätsprogramm nach dem anderen. Am Ende droht allen die Gefahr einer wirtschaftlichen Rezession. Kein Wunder, dass sich in dieser Lage die Opfer wehren und eigene Gegenmacht zu entwickeln suchen. Damit steht auch der politische Streik auf der Tagesordnung.

Bei alledem verhehle ich nicht ein leises Unbehagen. Während sich die Menschen in Griechenland, Spanien, Portugal und Frankreich wehren, herrscht hierzulande Ruhe. Geduld und Fleiß in den Betrieben werden allenfalls durch Warnstreiks lind gestört. Unbehagen empfinde ich auch aus einem weiteren Grund: Eine wesentliche Ursache der aktuellen krisenhaften Zuspitzung liegt in den Ungleichgewichten, für die Politik und Wirtschaft dieses Landes verantwortlich sind. Wer nach Störenfrieden sucht, wird sie hierzulande finden. Die deutsche Wirtschaft nimmt anderen auf doppelte Weise die Luft zum Atmen: zum einen durch erdrückende Wettbewerbskraft maßgebender Industriezweige; zum anderen durch Strangulierung der inländischen Nachfrage und Austrocknung des eigenen Marktes. Dies wiederum nimmt den Partnern die Chance, zum Ausgleich der permanenten deutschen Exportoffensive an hiesiger Nachfrage zu partizipieren. So wird jahraus, jahrein in den europäischen Partnerländern Kaufkraft abgeschöpft und gleichzeitig eigene Kaufkraft und Nachfrage gedrosselt, was für die Partner wie eine Zugangssperre wirkt. Die Disparitäten vergrößern sich. Verantwortlich für den Nachfrageausfall und die damit einhergehenden Wohlstandsverluste ist neben der aberwitzigen staatlichen Sparpolitik vor allem der Druck auf die Masseneinkommen.

Damit bin ich abermals bei meinem Unbehagen: Vergleicht man die internationale Lohnentwicklung, zeigt sich, dass die Bundesrepublik, ein wirtschaftlicher Riese, der vor Kraft kaum gehen kann, Schlusslicht in der Einkommensentwicklung ist. Deutschland ist das einzige Land, das beispielsweise in der Dekade von 2000 bis 2009 nach unlängst vorgelegten Berechnungen der ILO ein Minus der realen Löhne und Gehälter von 4,5 Prozent verzeichnet; in allen anderen vergleichbaren Ländern haben die abhängig Beschäftigten einen Zuwachs erreicht – zwischen 4,7 Prozent in Österreich und 31,4 Prozent in Norwegen. Als Gewerkschafter kommt man da schon ins Grübeln. Zwar wäre der Vorwurf, die Gewerkschaften hätten durch Dumpingtarife den Exportunternehmen zu ihren Erfolgen die Hand gereicht, vorschnell.

In den Exportindustrien haben die Gewerkschaften – namentlich die IG Metall sowie die Gewerkschaft Bergbau Chemie Energie – in der zurückliegenden Dekade den Verteilungsspielraum, bestehend aus gesamtwirtschaftlicher Produktivität und Inflationsrate, weitgehend ausgeschöpft, jedenfalls für die Kernbelegschaften. Die Hauptursache für die Abschottung der inländischen Märkte liegt in der politisch gewollten und rechtlich inszenierten Ausbreitung von Niedriglöhnen.

Dies ist das Werk und war die Absicht der namentlich von der Regierung Schröder/Fischer betriebenen Agendapolitik: die Deregulierung des Arbeitsmarkts, die Disziplinierung der Arbeitslosen und die rechtliche Förderung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Diese Saat ist aufgegangen. Übrigens auch für die Exportindustrie, die ungeachtet der Tariferfolge der IG Metall auch von den Armutslöhnen in den industrienahen Dienstleistungszweigen und vom Einsatz prekärer Beschäftigungsverhältnisse profitiert.

Doch auch wenn man die wesentlichen Faktoren der hiesigen Marktverengung in der Politik verortet, stellt sich die Frage: Wo waren die Gewerkschaften, als zentrale Elemente des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherung abgeräumt wurden? Sicher, der DGB hat opponiert. Der Widerstand kulminierte in den Demonstrationen des Frühjahrs 2004, fand aber auch mit ihnen sein Ende, da sie, so hieß es, nicht fortsetzungs- und steigerungsfähig gewesen seien. Kritiker sehen das anders; ich glaube, nicht ohne Grund. Doch der rückwärtsgewandte Streit ist müßig. Wichtiger ist die Vorbereitung auf Neuauflagen. Denn eines ist sicher: Ein Ende des Abbaus sozialer Rechte ist nicht erreicht; die relative Ruhe der letzten Jahre sollte nicht trügen; solange sich die Unternehmen im Ausland, also auf Kosten Dritter, sanieren, erscheint es weniger dringlich, an soziale Rechte Hand anzulegen. Doch spätestens morgen stellt sich die Frage, ob und wie die Gewerkschaften auch hierzulande einer abbruchbesessenen Politik in den Arm fallen. Ich jedenfalls kann es mir nicht vorstellen, dass wir hierzulande zuschauen und hinnehmen, was an Eingriffen kommt. Spätestens dann stellt sich die Gretchenfrage: Wie halten wir es mit dem politischen Streik?

Mythos neutraler Staat

Nun wissen wir, der politische Streik ist hierzulande rechtlich tabuisiert. Kaum ein Verbot wird mit solchem Nachdruck und solcher Einhelligkeit in der juristischen Zunft vertreten wie das des politischen Streiks. Dabei garantieren Verfassung und Völkerrecht mit der Koalitionsfreiheit "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" (Art. 9 Abs. 3 GG) auch die Streikfreiheit. Mit keinem Wort findet sich die Einschränkung allein auf wirtschaftliche oder gar tarifbezogene Streiks. Folgerichtig hat der Sachverständigenausschuss, der zur Überwachung der ILO-Übereinkommen berufen wurde, festgestellt, dass das hierzulande judizierte Streikverbot völkerrechtswidrig ist.

Doch auf den juristischen Streit will ich nicht eingehen. Nur eines sollte festgehalten werden: Ein zentrales Argument für das Verbot des politischen Streiks sind die Unabhängigkeit des Parlaments und die sich in demokratischen Wahlen zu den Parlamenten ausdrückende Volkssouveränität. So gipfelt die Argumentation gegen den politischen Streik in dem Vorwurf der Parlamentsnötigung. "Die Gewerkschaften", so heißt es, "verfügen ebenso wenig wie jede andere Interessengruppe über das Privileg, ihren politischen Willen den verfassungsrechtlich zuständigen Entscheidungsträgern aufzuzwingen" (Arbeitsgericht Hagen, 23. 1. 1991).

Die Argumentation ist von einer bemerkenswerten Blindheit. Es sollte sich herumgesprochen haben, dass die Vorstellung eines neutralen, über den Interessen schwebenden Staates ein Mythos ist. Der neutrale, ein objektives Gemeinwohl unabhängig von Klasseninteressen und von wirtschaftlicher Macht verfolgende Staat war schon immer die Lebenslüge des Obrigkeitsstaats. Hierzulande hat sie sich bis auf unsere Tage erhalten. Vollends in Zeiten der Finanzmarktabhängigkeit und der willigen Bedienung unternehmerischer Standortinteressen, in Zeiten, in denen bereits die Ankündigung von Kapitalflucht selbst den wackersten Sozialdemokraten alle Schwüre für eine gerechte Erbschafts- und Vermögenssteuer vergessen lässt, in Zeiten, in denen die Deutsche Bank die Gesetzentwürfe zur Bankenkontrolle formuliert, in Zeiten, in denen die Bundeskanzlerin in einem Anfall unbedachter Offenheit das Postulat einer "marktkonformen Demokratie" formulierte, in solchen Zeiten ist die These vom neutralen Staat so absurd, dass sie schon von unfreiwilliger Komik ist. Im Gegenteil, wer den Parlamenten Unabhängigkeit verschaffen, wer den Staat aus der Umklammerung durch wirtschaftliche Macht und aus der Vereinnahmung für Kapitalinteressen befreien will, der muss demokratische Gegengewichte der Mehrheit und damit auch den politischen Streik begrüßen.

Erst die Möglichkeit einer Machtbalance im vorparlamentarischen Raum setzt den Abgeordneten in den Stand, der Stimme seines Gewissens und den Forderungen seines Parteiprogramms zu folgen. Um die Sentenz der Bundeskanzlerin abzuwandeln: Die Demokratie muss nicht zur Marktkonformität pervertieren, sondern ihre Mehrheitskonformität verteidigen.

Rechte müssen verteidigt werden

Der geballte Protest in Sindelfingen. Foto: Martin StorzNun wissen wir auch: Allein durch rechtliche Argumentation schaffen wir das Verbot des politischen Streiks nicht aus dem Weg. Es ist eine alte Einsicht: Soziale Grundrechte wie namentlich die Koalitions- und Streikfreiheit, die nach Entstehung und Auftrag gegen die Inhaber wirtschaftlicher und sozialer Macht gerichtet sind, werden immer wieder infrage gestellt, müssen sich immer wieder aufs Neue legitimieren und verteidigt werden. Zugespitzt: Sie genießen so viel Anerkennung und Respekt, wie die Widerständigkeit derer reicht, denen sie zustehen und deren Vorfahren sie einst erkämpft haben. Sich deshalb in der Verteidigung und Durchsetzung sozialstaatlicher Grundrechte auf Advokaten zu verlassen heißt, schon verloren zu haben.

Auch ist nicht absehbar, dass uns ein gnädiger Gesetzgeber oder ein gütiger Richter die Zulässigkeit des politischen Streiks gleichsam als Geschenk vor die Füße legt. Wir müssen unser Recht schon selbst in die Hand nehmen. Das führt mich zu einigen Empfehlungen.

1. Entgegen der öffentlichen Verdrängung gilt es, gleichsam zur Enttabuisierung des politischen Streiks Folgendes in Erinnerung zu rufen: Proteststreiks, ja Generalstreiks fanden und finden auch hierzulande statt. Um einige prominente Beispiele zu erwähnen:

– Am 12. November 1948 legten 85 Prozent aller Arbeitnehmer der amerikanischen und britischen Zone für 24 Stunden die Arbeit nieder, nachdem der DGB aus Protest gegen die Wirtschaftspolitik des Alliierten Kontrollrats zu einem Generalstreik aufgerufen hatte. Schon vorher hatten übrigens die Bergarbeiter des Ruhrgebiets gegen die miserable Ernährungslage und für Sozialisierung des Bergbaus gestreikt.

– Im November 1950 und Januar 1951 sprachen sich die Stahl- und Bergarbeiter in Urabstimmungen ihrer Gewerkschaft für Streiks aus, um die paritätische Mitbestimmung in den Stahlunternehmen zu erhalten und auf den Bergbau auszudehnen; daraufhin lenkten Bundesregierung und Bundestagsmehrheit ein und verabschiedeten das Montanmitbestimmungsgesetz.

– Vom 27. bis 29. Mai 1952 legten die Beschäftigten der Zeitungsbetriebe in Befolgung eines Streikaufrufs der IG Druck und Papier die Arbeit nieder, um für ein besseres Betriebsverfassungsgesetz zu demonstrieren. Diese Streiks waren sodann Anlass für die anschließend gerichtlich verfügten Verbote politischer Streiks.

– Am 22. Januar 1955 kam es im Streit um das Mitbestimmungsergänzungsgesetz nochmals zu einer ganztägigen Arbeitsniederlegung der Stahl- und Bergbauarbeiter, zu der DGB, IG Metall, IG Bergbau und Energie aufgerufen hatten.

– In der Zeit vom 25. bis 27. Mai 1972 verließen Tausende Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz, um an Demonstrationen und Kundgebungen gegen das Misstrauensvotum gegen Willi Brandt teilzunehmen.

– Im Jahre 2006 streikten die Hafenarbeiter in allen großen europäischen Häfen, auch hierzulande in Bremerhaven, Hamburg und Rostock, um die in Brüssel geplante Deregulierung der Hafenarbeiten zu verhindern; mit Erfolg: Der Entwurf wurde zurückgenommen.

Auch heute noch findet sich im geltenden Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie in der Regelung der tariflichen Friedenspflicht (§ 16) folgende Bestimmung: Von der Friedenspflicht "ausgenommen sind Generalstreiks und Demonstrationen, die in Gemeinschaft und unter Leitung des Deutschen Gewerkschaftsbundes durchgeführt werden und sich nicht ausschließlich auf den Tarifkontrahenten beziehen". Gäbe es ähnliche Bestimmungen in allen Tarifverträgen, wäre das Verbot des politischen Streiks außer Kraft gesetzt.

2. Ganz allgemein ist es gewerkschaftliche Bürgerpflicht, den Streik insgesamt, nicht zuletzt den Tarifstreik, in die gesellschaftliche Normalität zu holen. Die Streikfreiheit leidet ja nicht nur unter dem Verbot des politischen Streiks; sie ist durch nicht wenige andere rechtliche Restriktionen eingeengt und muss sich überdies eines ganzen Bündels immer wieder gepflegter gesellschaftlicher Vorurteile erwehren. Je seltener gestreikt wird, umso zählebiger wird der Streik wie ein Fremdkörper eingekapselt. Um dem entgegenzuwirken, gilt es, sich das Streikrecht durch Praxis anzueignen. Hier kommt man abermals als Gewerkschafter ins Grübeln. Mit dem bereits erwähnten europäischen und internationalen Lohnvergleich korrespondiert die internationale Arbeitskampfstatistik. Auch hier rangiert die Bundesrepublik als Schlusslicht, nur noch durch die Schweiz an Wirtschaftsfrieden übertroffen. Ein Schelm, der hier Zusammenhänge sieht! Jedenfalls drängt sich die Frage auf, ob nicht die negative Lohnbilanz auf einem Übermaß an Konfliktvermeidung beruht. Meine Feststellung: Es wird zu wenig gestreikt in diesem Lande.

Bevor wir uns also dem Sonderproblem des politischen Streiks zuwenden, wäre bereits viel gewonnen, wenn der Streik insgesamt, namentlich der Streik für tarifvertragliche Ziele, mehr den sozialen Alltag der Bundesrepublik prägte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Streiks um Haustarifverträge und Streiks in schwach organisierten Sektoren zunehmen, eine Entwicklung, die freilich in der Statistik wenig Spuren hinterlässt. Es vergeht beispielsweise kaum eine Woche, in der nicht Verdi in einem seiner zahlreichen Fachbereiche zu Streiks aufruft. Demgegenüber sind Lohnstreiks in Leuchtturmbranchen, die hinsichtlich der Tarifführerschaft, der öffentlichen Resonanz und als Identifikationspol für die Beschäftigten anderer Sektoren das Geschehen bestimmen, allen voran in der Metallindustrie, zurückgegangen. In der – zugegeben: verzerrten – öffentlichen Wahrnehmung scheinen Berufs- und Spartenorganisationen den DGB-Gewerkschaften neuerdings den Schneid abzukaufen.

Im Vordergrund des Tarifgeschehens stehen seit langer Zeit Warnstreiks. Sie sind nicht zuletzt eine Reaktion auf das Risiko heißer und kalter Aussperrung und wurden durch eine in dieser Frage grundrechtsfreundliche Rechtsprechung begünstigt. Doch so erfolgreich gut organisierte Warnstreikbewegungen die Tarifverhandlungen unterstützen mögen, so sehr verfestigt sich mit dieser Praxis ein instrumentelles Verständnis des Streiks. Es ist ohnehin ärgerlich genug, dass die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung den Streik nur um tarifvertragsfähiger Ziele willen zulässt. Eine solche Einbettung in die tarifvertragliche Zweck-Mittel-Relation verkennt den eigenständigen demokratischen Charakter der kollektiven Arbeitsverweigerung. Streiks sind älter als Tarifverträge, ja älter als die Gewerkschaften. Die gemeinsame Arbeitseinstellung ist das klassische und notwendige Gegenrecht gegen die Freiheitsbeschränkungen abhängiger Arbeit. Die Streikenden stellen für die Zeit des Ausstands die innerbetriebliche Herrschaft vom Kopf auf die Füße. So gesehen ist das Streikrecht ein eigenständiges Freiheitsrecht, nämlich die punktuelle Herstellung von Demokratie in einer ansonsten auf sozialer Macht beruhenden Fremdbestimmung. Die damit verbundenen Erfahrungen, auch die bewusstseinsprägende Kraft sowie die der Gewerkschaft im Streik zuwachsende Autorität können sich in der Feinmechanik verhandlungsbegleitender kurzfristiger Warnstreiks kaum entwickeln.

Zurück zur Lohnentwicklung: Das Ergebnis der Einkommensentwicklung, auch wenn es überwiegend politisch induziert ist, verweist zugleich auf die Vermutung, dass die Gewerkschaften den sozialen Konflikt nicht immer ausgereizt haben. Wenn es heißt, dass diese Gesellschaft unter ihren Verhältnissen lebt, so wäre hinzuzufügen: Die Gewerkschaften sind unter ihren Möglichkeiten geblieben. Wenn derzeit also im Verhältnis zu den Kolleginnen und Kollegen in Griechenland, in Portugal, in Spanien oder andernorts Akte der Solidarität gefordert sind, so wird es Zeit, endlich die Lohnverluste der letzten Jahre auszugleichen. Es muss doch zu denken geben, dass selbst wirtschaftsliberale, den Gewerkschaften wahrhaftig nicht nahestehende Politiker des In- und Auslandes seit Jahren darauf drängen, die Nachfrage und damit die Masseneinkommen hierzulande zu stärken.

Auch Parkhäuser kann man besetzen. Foto: Martin Storz

3. Zur Aneignung des Streikrechts zählt auch die Überwindung bestehender rechtlicher Restriktionen. Dies ist eines der Felder, in denen die Gewerkschaften in den letzten Jahren durchaus Erfolge erzielen konnten. Als Beispiel sei an die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Warnstreiks, zur Rechtmäßigkeit von Solidaritätsstreiks, zur Zulässigkeit des Streiks um Standort- und Sozialtarifverträge erinnert. Auch Flashmobaktionen sieht das Bundesarbeitsgericht neuerdings durch die Streikfreiheit gedeckt. Gemeinsam war und ist all diesen Erfolgen und aktuellen Initiativen, dass sich die Gewerkschaften nicht allein auf gute rechtliche Argumentationen und Publikationen, also den juristischen Meinungsstreit verlassen, sondern dass sie die Streikfreiheit in der Praxis ausgeübt haben. Nur so ist Rechtsfortschritt möglich. Anders gewendet: Wer überkommene rechtliche, in der Verfassung keineswegs angelegte Restriktionen überwinden will, muss den Mut zur kalkulierten Regelverletzung aufbringen.

4. Nach demselben Muster gilt es, die Streikziele auszuweiten. Das beginnt, durchaus im Rahmen bzw. in behutsamer Fortentwicklung bisheriger Rechtsprechung, mit der tarifvertraglichen Korrektur politischer und gesetzlicher Eingriffe. Wenn die IG Metall aktuell mehr Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Leiharbeit sowie einen Übernahmeanspruch von Leiharbeitern und Branchenzuschläge in der Entlohnung fordert, sucht sie damit ein Mindestmaß an sozialem Schutz wieder herzustellen, den der Gesetzgeber durch Deregulierung der Arbeitnehmerüberlassung im Jahr 2003 beseitigt hat. Ebenso wäre es denkbar, die beinah uferlose gesetzliche Freigabe befristeter Arbeitsverträge durch tarifvertragliche Einengung wieder zurückzunehmen. Oder: Wenn der Gesetzgeber die paritätische Finanzierung der sozialen Sicherung durch Entlastung der Arbeitgeber beseitigt, wie bei der Krankenversicherung bereits geschehen, könnten die Gewerkschaften diese Lastenverteilung durch Tarifverträge wieder korrigieren. Wohlgemerkt, das sind lediglich Beispiele, die der Illustration dienen, nicht etwa Empfehlungen für einen prioritären Kanon der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Doch es sind Beispiele, die in Reaktion auf politische Destruktion an der Nahtstelle zwischen tarifvertraglicher und politischer Konfliktaustragung angesiedelt sind.

5. Desgleichen sind Annäherungsschritte an den politischen Streik denkbar. In den letzten Jahren haben es die Gewerkschaften in einigen prominenten Fällen vermocht, gegen die sinnlose Privatisierungspolitik Mehrheiten zu mobilisieren. Die Irrlehre, dass der Ausverkauf staatlichen, für die öffentliche Wohlfahrt unverzichtbaren Eigentums dem allgemeinen Fortschritt dient, ist längst nicht mehr mehrheitsfähig. Wie also wäre es, im Falle weiterer Wiederholung neben der Mobilisierung der Öffentlichkeit zugleich die Beschäftigten einer dem Privatisierungszugriff ausgesetzten Einrichtung zu Protestaktionen aufzurufen? Natürlich ist das mit rechtlichen Fallstricken verbunden. Das waren Solidaritätsstreiks bis vor wenigen Jahren auch. Selbstverständlich wird man sich auf anschließende langwierige juristische Auseinandersetzungen einlassen und vorbereiten müssen, notfalls versehen mit der Perspektive, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen, bei dem jedenfalls nach den jüngsten Erfahrungen das Streikrecht in besseren Händen ist als derzeit in der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Beispiele sollten eines deutlich machen: Das Streikrecht und seine Ausweitung stehen und fallen mit der Intensität, mit der die Gewerkschaften die Streikfreiheit nutzen.

 

Detlef Hensche (74) galt der Presse gerne als "linker Stratege", was ihn auch in der Gewerkschaft nicht allseits beliebt machte. Der Wuppertaler Unternehmersohn war Leiter der Grundsatzabteilung beim DGB (1971 - 1975), Vorsitzender der IG Medien (1992 - 2000) und ist heute wieder als Anwalt tätig. Hensche ist 2001 aus der SPD ausgetreten, nachdem die Partei mit der Agenda 2010 "das Fass zum Überlaufen" gebracht habe. Publizistisch tritt er als Mitherausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik" in Erscheinung.

Sein Vortrag bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahr 2012, "Das Tabu der politischen Streiks in Deutschland", ist in einem Buch des VSA-Verlags erschienen: Alexander Gallas/Jörg Nowak/Florian Wilde (Hg.): Politische Streiks im Europa der Krise. VSA-Verlag, Hamburg. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro.

 


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