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Pflegekammer

Bringt nichts

Pflegekammer: Bringt nichts
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Nach heftigem Gegenwind und Coronapause macht sich Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha, Grüne, nun wieder an die Pflegekammer. Aktuell steht der Gesetzesentwurf dafür im Internet und jede und jeder darf kommentieren. Und dann?

Sieht nur so aus wie Bürgerbeteiligung: Zwar darf jede und jeder den Gesetzentwurf für eine Pflegekammer in Baden-Württemberg online kommentieren. Aber ändern tut das nichts – der Fahrplan für den Gesetzesweg steht, egal wieviel kommentiert wird. Entwurf, Anhörung von mehr oder weniger betroffenen Verbänden, Debatten im Landtag, Beschluss, Inkrafttreten. Bis zur endgültigen Abstimmung im Landtag kann sich der ein oder andere Punkt im Entwurf noch verändern, weil der ein oder andere Verband ein nachvollziehbares Argument für irgendeinen Einzelaspekt eingebracht hat. Dass allerdings durch die Debatten im Landtag Abgeordnete von Regierungsfraktionen am Ende zu der Ansicht kommen "Das will ich doch nicht" und dagegen stimmen, ist unwahrscheinlich. Fraktionszwang und so.

Die Pflegekammer soll also kommen. Das will der grüne Landesgesundheitsminister Manfred Lucha, das will der Koalitionsvertrag. Vorgesehen ist, nach Verabschiedung des Gesetzes im Frühjahr einen Gründungsausschuss einzurichten, in den das Ministerium zwölf bis 15 Menschen schickt. Dieser Ausschuss hat viel zu tun. Vor allem muss er die Pflegekräfte erfassen, von denen es im Land rund 110.000 gibt. Helfen sollen dabei Krankenhäuser, stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen und wer sonst noch Pflegefachkräfte beschäftigt. Die Arbeitgeber sind laut Gesetzentwurf verpflichtet, ihre Fachkräfte dem Gründungsausschuss zu melden. Bis Dezember 2024 ist Zeit für das Prozedere. Dann soll nach dem Willen des Ministeriums die Gründungsversammlung der Pflegekammer stattfinden, und der Ausschuss kann sich auflösen.

66.000 Pflegekräfte müssen sich registrieren

Vielleicht aber kommt es soweit gar nicht. Denn das Gesetz sieht auch vor: Nur wenn mindestens 60 Prozent der besagten 110.000 baden-württembergischen Pflegefachkräfte registriert sind, findet die Gründungsversammlung statt. Ist das nicht der Fall, "erfolgt keine Errichtung der Landespflegekammer".

60 Prozent ist eine hohe Hürde, findet Susanne Scheck, Vorsitzende des Landespflegerates, eines Pro-Pflegekammer-Verbands. Dem "Ärzteblatt" sagt sie, "die Zeit, die uns gegeben werden soll, ist zu kurz und die Quote zu hoch". Sie verweist auf Nordrhein-Westfalen, wo bis zur Gründung der dortigen Pflegekammer im vergangenen Dezember innerhalb von zwei Jahren nur 50 Prozent der Pflegenden registriert werden konnten.

Dass die Vorbereitung aufwendig ist, weiß auch das Ministerium und hält 3,9 Millionen Euro in diesem und im nächsten Jahr dafür bereit. Danach muss die Pflegekammer sich selbst finanzieren. Und zwar über Pflichtmitgliedsbeiträge, von den Gegner Zwangsbeitrag genannt. Der soll sich laut Ministerium zwischen fünf und neun Euro pro Monat bewegen.

Bislang gibt es in der Republik zwei Landespflegekammern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. In ersterer bewegt sich der Beitrag zwischen 30 und 300 Euro pro Jahr, je nach Einkommen. In NRW finanziert das Land die Kammer nach der gerade erfolgten Gründung bis 2027, sie bleibt also bis dahin beitragsfrei.

Doch zurück zum eigentlich Sinn der Kammer. Sie soll das Berufsbild schärfen, Qualitätskriterien festlegen, Qualifikationen regeln, eine Berufsordnung festlegen und diese beaufsichtigen. Ein Schwerpunkt wird sein, Berufsgerichtsbarkeiten einzurichten, zum Beispiel für Beschwerden von Patient:innen oder Angehörigen über Pflegende. Befürworter:innen der Kammer sagen, die Kammer werde insgesamt die Qualität der Pflege verbessern, das Ansehen der Pflegenden erhöhen, das Anliegen der Fachkräfte, mehr Verantwortung zu übernehmen, beschleunigen. Weil die Pflegefachkräfte endlich selbst über ihren Beruf bestimmen könnten. Ein Parlament der Pflegenden soll die Kammer werden und deren Interessen nach außen und innerhalb des Gesundheitssystems besser vertreten.

In Ländern mit Pflegekammer ist es auch nicht besser

Hört sich alles gut an, scheint bei näherem Hinsehen allerdings zu hoch gegriffen, wie ein Blick ins europäische Ausland zeigt. Gerne wird von Befürwortern auf die Pflegekammer in Großbritannien verwiesen. Dort müssen Pflegekräfte beim NMC (Nursing and Midwifery Coucil) registriert sein, um überhaupt arbeiten zu dürfen. Beim NMC können Beschwerden über schlechte Pflege eingereicht werden, der muss dem dann nachgehen. Er überprüft, ob die Mitglieder ihre Fortbildungspflichten erfüllen und definiert Standards. So weit so gut. Definierte Standards aber gibt es auch in Schweden, wo keine Pflegekammer existiert. Auch dort müssen Krankenpflegekräfte sich registrieren, das berufsrechtliche Handeln überwacht eine staatliche Behörde.

Und wie geht es den Pflegekräften in diesen Ländern? Naja. In Schweden wurde in den vergangenen zehn Jahren ein Viertel der Krankenhausbetten abgebaut, zudem wurden ab den 1980er-Jahren private Betreiber im Gesundheitssystem zugelassen. Zwar gibt es rein zahlenmäßig genügend Personal, dennoch beklagen die Pflegenden Überlastung – nicht erst seit Corona. Bürokratie, nicht kompatible IT-Systeme, stetige Überstunden und lange Schlangen von wartenden Patient:innen kennzeichnen das Gesundheitssystem im einstigen Pippi-Langstrumpf-Land.

Auch in Großbritannien haben die Regierungen der vergangenen Jahre im Gesundheitssystem gespart, gespart, gespart und zuletzt noch mit dem Brexit ausländisches Personal vertrieben. Die Folgen: Überlastung und sinkende Einkommen im öffentlichen Gesundheitssystem NHS. Dort verdient eine Krankenschwester heute 20 Prozent weniger als vor zehn Jahren. Mitte Dezember streikten die Pflegekräfte des NHS.

Ob Pflegekammer oder nicht: Im Gesundheitswesen kommt es auf die Politik an. Die steuert, wie Behandlungen und Pflege in einem Land organisiert sind. Und in der Beziehung ist Deutschland, auch Baden-Württemberg, kein Glanzlicht. Bekanntlich fehlt Personal an allen Ecken und Enden. Das ist seit vielen Jahren bekannt, getan wurde wenig. Corona zeigte das ganze Ausmaß der Misere. Und seitdem ist es nicht besser geworden.

Auch die Erwartung der Pro-Pflegekammer-Gruppen, dass mit der Kammer die Kompetenzen der Pflegenden ausgeweitet werden können, zielen ins Leere. Ob beispielsweise eine Pflegefachkraft Medikamente verschreiben darf, entscheidet keine Kammer, sondern ein Gesetz. Also die Politik.

Wirkliche Mitsprache wird es nicht geben

Eine Pflegekammer mag den Pflegefachkräften eine Stimme verleihen können, Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen haben sie deshalb noch lange nicht. Und in puncto Mitbestimmung in wichtigen Gesundheitsgremien, allen voran dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), auch kleiner Gesetzgeber für das Gesundheitswesen genannt, wird die Pflegekammer ebenfalls nicht helfen. Selbst die Bundesärztekammer hat dort lediglich Beratungsrecht. Noch weniger mitreden darf dort der Deutsche Pflegerat. Wenn die Politik tatsächlich Mitsprache der Pflege haben wollte, müsste dieser GBA erstmal reformiert werden. Wogegen der sich kräftig wehrt.

Eine Pflegekammer Baden-Württemberg würde denjenigen, die sich dort engagieren, viel Arbeit machen. Die Wirkung dieses neuen Gremiums allerdings dürfte überschaubar bleiben.

Genauso überschaubar wie die Wirkung von Kommentaren zu Gesetzesentwürfen, auf die Baden-Württemberg gerne verweist, um seine Bürgerbeteiligung zu rühmen. Zum Pflegekammergesetz gibt es bislang etwa 130 Kommentare, nahezu keiner beschäftig sich mit dem Gesetzesinhalt. Stattdessen erklären die – auch anonymen – Kommentator:innen "Ja zur Pflegekammer" oder "Nein zur Pflegekammer". Nicht sehr hilfreich fürs Ministerium, das auf Anfrage erklärt: "Baden-Württemberg ist mit diesem Verfahren bundesweit führend. Das Beteiligungsportal … existiert seit fast zehn Jahren und wurde mehrfach wissenschaftlich evaluiert. Dabei kristallisierte sich die nun praktizierte Vorgehensweise als das sinnvollste Vorgehen heraus." Wofür auch immer.


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6 Kommentare verfügbar

  • David Maier
    am 02.03.2023
    Antworten
    Die Pflege benötigt ein zentrales Sprachrohr. Wer hat während der Pandemie aufbegehrt, als die Personaluntergrenzen in den Kliniken aufgehoben wurden? Niemand! Weil es keine anständige Interessenvertretung gibt.
    Ich trete ein für die Kammer und für einen hohen Organisationsgrad in der…
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