Auf der Suche nach derart frischen Wahlkampfideen wurde der Tengener Schultes quasi nebenan fündig: in der Schweiz. Genauer gesagt in der Banken- und Finanzwirtschaftsmetropole Zürich. Südwestlich der Innenstadt, unweit des FIFA-World Football Museums, residiert in der Bürtlistrasse 17 die Rod Kommunikations AG. Die Agentur mit dem Eigenslogan "A Better Bang for a Buck" ("Mehr Aufmerksamkeit pro Dollar") gilt als eine der führenden eidgenössischen PR-Agenturen. Zu seinem Wahlkampfauftakt im Januar stellte Schreier Rod-Agenturgründer David Schärer als seinen Kampagnenleiter in Stuttgart vor. Assistiert wird der Zürcher von Laura Zimmermann, deren Funktion auf der Agentur-Homepage mit "Amplification" bezeichnet ist. Was so viel wie Unterstützung bedeutet.
Die Operation Libero zwischen links und rechts
Was Schreier damals nicht mitteilte: Schärer und Zimmermann hatten schon zuvor die Schweiz politisch bei Volksabstimmungen und Wahlen aufgemischt. Allerdings unter einem anderen Hut, dem der "Operation Libero" (OL). Was nach Fußball klingt, versteht sich selbst als politische Bewegung, die im Jahr 2014 von einer Handvoll Studierender ins Leben gerufen wurde. Damals hatte die nationalkonservative, rechtspopulistische und wirtschaftsliberale Schweizerische Volkspartei (SVP) ein Referendum zur Eindämmung der EU-Einwanderung knapp gewonnen. "Wir mussten kämpfen, weil wir nicht in einem Land wie diesem leben wollten", schildert OL-Mitbegründerin Flavia Kleiner im April 2019 im "Guardian". Die britische Zeitung widmete damals kurz vor den schweizerischen Parlamentswahlen der Bewegung ein ausführliches Porträt. Titel: "Ändern Sie das Narrativ: Wie eine Schweizer Gruppe Rechtspopulisten schlägt".
"Die Operation Libero ist eine spendenfinanzierte, unabhängige politische Bewegung", erklärt Laura Zimmermann, die neben ihrem Job bei Rod Kommunikation bis heute als Co-Präsidentin der Bewegung fungiert, gegenüber Kontext. In der Schweiz sei die OL einer der Hauptgegner der rechtskonservativen SVP, gegen die man in der Vergangenheit mehrere Initiativen gewonnen habe. "So haben wir uns etwa gegen die Durchsetzungsinitiative, gegen die No Billag-Initiative oder gegen die Selbstbestimmungsinitiative eingesetzt", so Zimmermann.
Mit der Durchsetzungsinitiative, über die im Februar 2016 abgestimmt wurde, wollte die SVP Ausländer schon bei leichten Straftaten wie Hausfriedensbruch abschieben. Zwei Jahre später versuchten die Rechtspopulisten über die No Billag-Initiative die Rundfunkgebühren abzuschaffen und damit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk SRG mundtot zu machen. Im November 2018 dann strebte die SVP mit der Selbstbestimmungsinitiative an, Schweizer Bundesrecht über internationales Völkerrecht zu stellen.
Alle drei SVP-Initiativen scheiterten jedoch. Ein Erfolg, den sich die OL auf ihre Fahnen schrieb. Mit Plakaten auf der Straße und Protesten im Netz hatte sie dagegen mobilisiert. Dafür erhielt die Bewegung im Februar 2019 die Theodor-Heuss-Medaille, mit der die gleichnamige Stuttgarter Stiftung beispielhafte Zivilcourage und herausragendes bürgerschaftliches Engagement würdigt.
Ein dunkler Schatten auf den Glanz der OL fiel im August 2019. Kurz vor den Schweizer Parlamentswahlen enthüllte die Zürcher Wochenzeitung WOZ, dass die Bewegung gezielt mehr als zwei Dutzend KandidatInnen angegangen war und ihnen die Finanzierung von Werbung im Umfang von insgesamt 1,5 Millionen Franken versprochen hatte. Im Gegenzug mussten sich die Unterstützten laut WOZ in einer Art Vertrag zu vorformulierten politischen Positionen der OL bekennen.
Das Rentenalter soll schrittweise angehoben werden
Dass die "Operation Libero" mit so viel Geld winken konnte, hatte laut WOZ einen Grund: "Viele Positionen in ihrem Papier decken sich mit jenen von mächtigen Wirtschaftsverbänden. Neben einer offenen Gesellschaftspolitik fordert sie von den KandidatInnen einen rechten Wirtschaftskurs", konstatierte das Blatt. Eine "schrittweise Anhebung des durchschnittlichen Rentenalters" zum Beispiel. "Mit dem Einkaufswägeli in den Wahlkampf", überschrieb die WOZ die Enthüllung, die zahlreiche Medien aufgriffen. Woher das Geld kommt, will die OL nicht sagen.
Bis heute bestreitet die Organisation, Politiker gekauft zu haben. Das vertrauliche Papier sei ein Fragebogen gewesen, um ein möglichst genaues Bild der Inhalte potenzieller KandidatInnen zu bekommen. "So konnten wir gut abklären, welche Kandidaten zu unserer Kampagne unter dem Motto Wandelwahl am besten passen", so Co-Präsidentin Zimmermann. Werber Schärer, damals im OL-Vorstand, betonte im Nachgang gegenüber der WOZ, dass der Libero-Wahlkampf ein Experiment gewesen sei, WählerInnen dazu zu bringen, Leute statt Listen zu wählen, um so die rückwärtsgewandte Parlamentspolitik der letzten Jahre zu ändern.
28 Kommentare verfügbar
Phil Schwarz
am 21.11.2020