Als der junge Münchner Theologieprofessor Joseph Ratzinger 1968 von Apo-Studenten im Hörsaal schikaniert wurde, war das sein Damaskus-Erlebnis. "Ich habe das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit unverhüllt gesehen", schauderte es ihn noch drei Jahrzehnte später. Und so wandelte sich der liberale, leidlich modern denkende Reformer zum Konservativen, der es mit der Angst bekam: um diese Welt und zugleich vor ihr.
Jetzt hat er dieser Welt, auf deren Beifall er nie Wert legte, noch einmal gezeigt, wozu sein Eigensinn ihn befähigt. Und urplötzlich einen Staunen machenden Rücktritt hingelegt. Denn Ratzinger behandelt sein irdisches Stellvertreteramt so funktionalistisch wie irgendein Minister das seine – was von Menschen verliehen wird, das kann der Mensch auch wieder hergeben. Im Abgang hat ausgerechnet dieser Papst eine bemerkenswerte Entsakralisierungsleistung vollbracht, also justament das, worauf unzählige Gläubige auf anderen, wichtigeren Feldern seit langem vergeblich warten und hoffen. Ob aber jene recht bekommen, die reichlich voreilig behaupten, hinter diesen Markstein könnten die Nachfolger nicht mehr zurück, steht in den Sternen. Zu sehr verlassen sollte man sich auch nicht auf den von Ratzinger angegebenen Rücktrittsgrund: Deutsche Besucher, die dieser Tage bei ihm waren, darunter Joachim Gauck, hatten von Schwäche so gar nichts bemerkt ...
Uneitel, belesen, gebildet, freundlich im persönlichen Umgang, durchaus charismatisch – es lässt sich viel Gutes sagen über den Menschen Ratzinger. Aus kritischer Sicht fällt das Urteil über den Großtheologen und vermeintlichen Meisterdenker deutlich weniger schmeichelhaft aus, ebenso das über den Kirchenpolitiker. Ersterer hat in den letzten Jahrzehnten eine verhängnisvolle Rolle gespielt mit einem auf seine Weise durchaus fundamentalistischen Christentum: erst der Glaube, dann die gefährliche, gefährdete Vernunft und überhaupt alles Säkulare. Eine "Diktatur des Relativismus" meinte Benedikt weltweit am Werk zu sehen, und da war und ist ja, abgesehen von der pompösen Wortwahl, durchaus manches dran.
Dass er selber aber unermüdlich an einer Immunisierung des Frommseins arbeitete und alle Einwände beiseite zu schieben versuchte, die zeitgenössische Vernunft und Wissenschaft gegen diesen Glauben vorbringen – das schien weder er selber zu bemerken noch seine Bewunderer, einschließlich Jürgen Habermas. So hatte Ratzinger bald nach Amtsantritt in aller Öffentlichkeit Lob übrig für Teufelsaustreiber; in Auschwitz taumelte der Großtheologe anno 2007 in einer hochgerühmten Rede von einer Ausflucht zur nächsten; in seiner "Jesus"-Trilogie bleibt er Antworten auf heikle Fragen konsequent schuldig und sucht sein Heil, wie gewohnt, in einer schwärmerischen Rhetorik, die die ernüchternden Erkenntnisse mehrhundertjähriger Bibelkritik souverän ignoriert.
Und dass Ratzingers Pontifikat seiner Kirche wesentlich geholfen hätte, wird außerhalb seiner engeren Anhängerschaft kaum jemand behaupten. Bei Themen wie Zölibat, Frauenpriestertum, sexueller Missbrauch etc. hat er ihr Stillstand verordnet, die Protestanten hat er durch seine Unnachgiebigkeit frustriert (als ob Gott, gäbe es ihn, sich interessieren würde für solche Unterschiede zwischen den Konfessionen; in Wahrheit sind sie ungefähr so lachhaft wie jene zwischen Sunniten und Schiiten). "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und du wirst nur Schlechtes und Inhumanes finden" – dieses Zitat, das der oberste Brückenbauer in seiner berüchtigten Regensburger Rede unterbrachte, hallt bis heute in der islamischen Welt nach. Und sein Gebrauch weist ihn aus als einen Unpolitischen, der sich nicht von ungefähr immer am wohlsten gefühlt hat in seiner Gelehrtenstube.
In der Vorstellung, er selbst kenne sich zumindest punktuell und in zentralen Fragen um einiges besser aus mit dem göttlichen Willen als die meisten anderen, hat dieser Papst Front gemacht gegen das, was er "die herrschende Meinung" nannte. Mit ihm dürfte sich dieses Modell faktisch weitgehend verbraucht haben. Allerdings ist die Frage, ob eine Mehrheit des maßgeblich von ihm bestückten Kardinalkollegiums das auch so sieht – oder ob nicht sogar ein ähnlich konservativ gestimmter Weltskeptiker auf den sogenannten Stuhl Petri gelangt. Eine Hinwendung zur Welt – und damit zu den Laien, zu den Frauen, zu den Homosexuellen, zu den Armen, zu den Un- und Andersgläubigen – birgt aus der Sicht von eher dogmatisch empfindlichen Klerikern die tödliche Gefahr der Beliebigkeit, des Verlusts des Eigentlichen. Wenn aber die Welt eben gerade so ist, wie sie sie sehen, könnte die Kirche eben gerade so und vielleicht nur so wieder an Ansehen und Zulauf gewinnen. Dass sie noch immer enorme Ausstrahlung besitzt und für wichtig gehalten wird, zeigt schon allein der weltweite mediale Hype um den Rücktritt.
Peter Henkel hat zuletzt zusammen mit Norbert Blüm das Buch <link http: www.kontextwochenzeitung.de newsartikel der-leere-himmel _blank external-link-new-window>"Streit über Gott" (Herder-Verlag 2012) herausgebracht. Kontext veröffentlichte zu Weihnachten 2012 einen <link http: www.kontextwochenzeitung.de newsartikel alles-hollywood _blank external-link-new-window>Briefwechsel der beiden Autoren.
In Reminiszenz an den Besuch des Papstes in Freiburg: <link http: www.kontextwochenzeitung.de newsartikel papst-und-beissschrecken _blank external-link-new-window>Papst und Beißschrecken.
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libuznik
am 23.02.2013