Der Protest gegen Stuttgart 21 will einfach nicht in sich zusammenfallen. Das ärgert auch die gar nicht mehr so neue Landesregierung. Denn inzwischen gibt es Jahrestage von Ereignissen, die in die grün-rote Herrschaftszeit fallen. Die Rodung des Schlossgartens zum Beispiel. Am 14. Februar ist das ein Jahr her, die Überwachung der Bürger hat das Kabinett Kretschmann nahtlos übernommen.
Es war der größte Polizeieinsatz (14.–17. 2. 2012) in der Geschichte des Landes Baden-Württemberg: 9000 Beamte, hergekarrt aus aller Herren Bundesländer und eingeschworen darauf, das Baurecht der Deutschen Bahn AG in Stuttgarts Mittlerem Schlossgarten mit – fast – allen Mitteln durchzusetzen. Nur die Wasserwerfer hatten sie diesmal in der Kaserne gelassen. Und die Polizei hatte, anders als am 30. September 2010, am Schwarzen Donnerstag, als erstmals Bäume gefällt wurden, im Vorfeld mitgeteilt, wie sie vorgehen würde. Deshalb führte der Einsatz auch zum "Erfolg".
2000 Polizisten reichten am Ende aus, um den Schlossgarten von Demonstranten zu räumen, die übrigen "Kräfte" konnten "in Reserve gehalten" und wieder heimgeschickt werden, als nach dreitägigem Abholzen (der meisten bis zu 300 Jahre alten Bäume) und Ausgraben (der wenigen jüngeren Exemplare) der Auftrag erledigt war. Seither ist der Mittlere Schlossgarten, einstmals einer der schönsten innerstädtischen Parks Deutschlands, eine Schlammwüste, in der nichts passiert.
Wofür das Ganze also?, fragen die S-21-Gegner und geben selbst die Antwort darauf. "Für nix und wieder nix" ist eine "Mahnwache" betitelt, mit der die Parkschützer am 14. Februar (16 Uhr bis Mitternacht im Schlossgarten) an die Rodung erinnern – und an den Abriss des Südflügels sowie an das Abholzen der Bäume vor dem Wagenburgtunnel gleich mit. Auch das ist gerade mal ein gutes Jahr her, auch das geschah unter Polizeischutz, und auch diese Baustellen liegen seither brach. Schlimmer noch: Während die politische Diskussion über (Un-)Sinn und Zweck(-losigkeit) des Bahnprojekts gerade eben – und in bisher nicht erlebter Offenheit – wieder aufflammt, stehen die nächsten Rodungen unmittelbar bevor. Noch in dieser Woche, hat die Bahn angekündigt, will sie Bäume im Rosensteinpark fällen lassen. Der Bereich im Landschaftsschutzgebiet entlang der Ehmannstraße ist bereits eingezäunt, die Parkschützer haben vor Tagen schon "Voralarm" ausgelöst, und die Polizei steht wie immer parat.
Einigen Grünen platzt jetzt der Kragen
Da platzt jetzt, endlich möchte man sagen, einigen Grünen der Kragen. Allerdings nicht denen, die in der Regierung und damit in der Zwickmühle zwischen Koalitionsraison und Projektförderpflicht sitzen. Dafür immerhin Fritz Kuhn. Stuttgarts neuer Oberbürgermeister, ebenso Projektpartner wie das Land auch und als solcher vertraglich zur "Förderung" von Stuttgart 21 verpflichtet, appellierte dieser Tage bereits zum zweiten Mal in seiner gerade mal sechswöchigen Amtszeit öffentlich an die Bahn, auf Baumrodungen zu verzichten, "solange über die Zukunft des Projektes nicht abschließend entschieden ist". Und er legt noch ein Brikett ins Feuer: Erst mal solle die Bahn die "schmerzhaften Fragen" beantworten, die der Bund als Eigentümer derzeit an sie stelle.
Kuhn riskiert damit einiges, schließlich hat die Mehrheit des Gemeinderats, dem er vorsteht, erst vergangene Woche in einer gemeinsamen Resolution von CDU, FDP, Freien Wählern und SPD – mehr oder weniger bedingungslos – den Weiterbau von Stuttgart 21 gefordert. Würde sich diese Front weiter verhärten, wäre Stuttgart womöglich bald unregierbar. Immerhin sprang am vergangenen Montag die grüne Gemeinderatsfraktion ihrem OB bei und stellte in einem Antrag die Forderung an die Bahn, auf die Rodungen zu verzichten. Und der Kreisverband Stuttgart von Bündnis 90/Den Grünen hatte selbiges bereits vergangene Woche im Rahmen einer Kreismitgliederversammlung getan.
Genau von dort aus, von der Basis also, die im "grünen" Stuttgart mitgliederstark und einflussreich ist, wird zunehmend Kritik laut am Stillhalten der meisten grünen Regierungsmitglieder, die sich um des Koalitionsfriedens willen hinter der Volksabstimmung und Ministerpräsident Winfried Kretschmann verschanzen, der gebetsmühlenhaft versichert, er werde keine neue Ausstiegsdebatte eröffnen. Dabei wäre die doch derzeit, darauf deuten die jüngsten Signale aus Berlin hin, erfolgversprechender denn je.
Doch es geht der grünen Basis nicht nur um den Tiefbahnhof und dessen ausufernde Kosten. Hörbar gemurrt wird außerdem über den nicht erkennbaren Tatendrang der Regierung in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Zwar trägt der Untersuchungsausschuss zum EnBW-Deal Stück für Stück einiges zur Wahrheitsfindung bei, doch musste insbesondere die grüne Landtagsfraktion zum Jagen getragen werden, ehe der Ausschuss überhaupt eingesetzt wurde. Und auch die längst erhobene Forderung nach einer Wiederaufnahme des Untersuchungsausschusses zum Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag, kürzlich bekräftigt mit der Übergabe von mehr als 4000 Unterschriften an die grüne Landtagsfraktion, hat dort kaum Echo erzeugt.
Die Überwachung der Protestbürger gilt auch unter Grün-Rot
Auf mehr Widerhall vor allem bei den eigenen Regierungsmitgliedern hofft der grüne Kreisverband bezüglich einer <link https: old.kontext-wochenzeitung.de fileadmin user_upload resolution_rahmenbefehl.pdf _blank download>am vergangenen Donnerstag verabschiedeten Resolution, in der die "unverzügliche Aufhebung" des 2010 vom damaligen CDU-Innenminister Heribert Rech erlassenen Rahmenbefehls zur Überwachung des Widerstands gegen Stuttgart 21 verlangt wird. Es sei "für uns Stuttgarter Grüne nicht akzeptabel", dass mit "diesem rechtsstaatlich bedenklichen Instrument eine fortwährende Überwachung und damit die pauschale Kriminalisierung einer friedlichen Bürgerbewegung ermöglicht wird".
Das ist schweres Geschütz und durchaus auch "friendly fire", denn Adressat der Resolution ist immerhin die ganze Landesregierung, aber ins Visier genommen wird vor allem ein SPD-Minister: Reinhold Gall. Der hat im Dezember 2011 den Rahmenbefehl seines Vorgängers stillschweigend, aber vollinhaltlich verlängert. Seit der Regierungsübernahme im Mai 2011, also seit bald zwei Jahren, wird auch unter Grün-Rot "offen und verdeckt" ermittelt, in Zusammenarbeit von Polizei, Landeskriminalamt sowie Verfassungsschutz, und alle drei Wochen werden sogenannte Gefährdungslagebilder erstellt, in denen von "gefährdeten Personen und Objekten" über "potenzielle Störer" bis hin zu "sonstigen Protestformen" sogar erfasst wird, wenn sich Parkschützer in Bahnhofsnähe zu einem "Parkgebet" versammeln.
Dieser Rahmenbefehl unterliegt der Geheimhaltung und ist als VS-nfD klassifiziert, als "Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch", und dass es ihn überhaupt gibt, würde die Öffentlichkeit gar nicht wissen, wenn nicht – wieder mal der Bürgerprotest – den Vorgang publik gemacht hätte. Bereits vor knapp einem Jahr hat der ehemalige Richter Dieter Reicherter die ihm zugespielte Information in einem Rundbrief gestreut. Nur so hat zum Beispiel auch einer wie Hans-Ulrich Sckerl davon erfahren. Dem parlamentarischen Geschäftsführer der grünen Landtagsfraktion fiel vor Schreck bei der Frühstückslektüre "beinahe die Kaffeetasse aus der Hand". Seither nimmt Sckerl bei dem Thema kein Blatt vor den Mund, nur hört ihn anscheinend keiner.
Diese Erfahrung – und ein paar abstruse andere mehr – hat auch Dieter Reicherter gemacht. "Das interessiert einfach niemanden", lautet sein Fazit ein Jahr, eine Hausdurchsuchung und einiges an persönlichen Anfeindungen danach. Der Mann, der "als ehemals braver Bürger" sein Weltbild erschüttert sah, als er am Schwarzen Donnerstag zufällig Zeuge des Polizeieinsatzes im Schlossgarten wurde, kriegt nicht nur keine Antworten auf berechtigte Fragen. Er hat sich vor allem mit der Staatsanwaltschaft Stuttgart angelegt, bei der er selber einst tätig war, bevor er Richter wurde, und dort mit dem Leiter der Politischen Abteilung, dem seit Jahren umstrittenen Leitenden Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler. Der hatte in einem internen Aktenvermerk Reicherter unterstellt, "eine Wahnvorstellung" entwickelt zu haben.
Dass dieser Vermerk dann in eine Prozessakte, in die er nicht gehörte, und damit an die Öffentlichkeit gelangte, soll ein Versehen gewesen sein. Für das die Staatsanwaltschaft bis heute ein Wort des Bedauerns ebenso schuldig blieb wie für die Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Hausdurchsuchung bei Reicherter im Mai vergangenen Jahres. Damals, drei Monate nach Reicherters Veröffentlichung des Rahmenbefehls, hatte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats gegen unbekannt eingeleitet und <link http: www.kontextwochenzeitung.de newsartikel der-richter-und-die-denker _blank external-link-new-window>die Wohnung des Zeugen Reicherter durchsucht – als der gerade auf einer Auslandsreise war und ohne Hinzuziehung einer Vertrauensperson.
Welche Relevanz dabei beschlagnahmte Unterlagen –wie zum Beispiel der Koalitionsvertrag der grün-roten Landesregierung(!) – für die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben, will Reicherter seither wissen. Ergebnislos. So auch die Antwort aus dem Staatsministerium auf ein persönliches Anschreiben an den Ministerpräsidenten. So weit sich Reicherters Fragen auf "eingestufte Dokumente" bezögen, also auf den Rahmenbefehl, könne man sich nicht äußern, "da Amtsträger sich sonst der Gefahr aussetzen könnten, mit den Vorschriften des Strafgesetzbuches in Konflikt zu geraten".
Zum Rahmenbefehl bügelt SPD-Minister Gall alle Fragen ab
Genau so pauschal hat Innenminister Gall eine Anfrage von Kontext abbügeln lassen, in der wir eine ganze Reihe von Fragen zum Rahmenbefehl gestellt haben, darunter zum Beispiel jene, ob die im Rahmenbefehl formulierte "aktuelle Einschätzung" noch Gültigkeit habe, wonach "Protestformen zunehmend radikaler" würden und "eine Zunahme extremistischer Einflüsse zu befürchten" sei. "Leider", ließ uns die Pressestelle des Innenministeriums dazu wissen, müsse man die Beantwortung des <link https: old.kontext-wochenzeitung.de fileadmin user_upload fragenkatalog_-_rahmenbefehl.pdf _blank download>Fragenkatalogs "ablehnen", weil die Dokumente VS-nfD eingestuft seien und "wir keinen Geheimnisverrat begehen wollen".
Das will nun nicht nur die grüne Stuttgarter Basis so nicht länger hinnehmen, ein Stück weit sicher auch aus Sorge um die eigene Kundschaft, die ihr bei der Landtagswahl vor zwei Jahren immerhin drei von vier Direktmandaten in der Landeshauptstadt und den Sieg bei der OB-Wahl bescherte. Das bereits mit zusammengebissenen Zähnen, wie der Kandidat Fritz Kuhn im Wahlkampf mehr als einmal feststellen musste, als ihm nicht wenige aus der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 ein forsches "Nie wieder Grün" entgegenhielten und im ersten Wahlgang gute zehn Prozent auf den linken Aktivisten Hannes Rockenbauch entfielen. Und schmerzliche Gefühle dürfte auch eine Veranstaltung des grünen Kreisverbands im Dezember erzeugt haben, als man Betroffene des Schwarzen Donnerstags ins Stuttgarter Rathaus einlud, um darüber zu reden, wie es um die Aufarbeitung dieses Ereignisses stehe. Da hatte es Kritik auch an grüner Tatenlosigkeit gehagelt, wiewohl es nicht an erster Stelle deren Versäumnis ist, wenn bis heute kein Mensch in Baden-Württemberg ein Wort der Entschuldigung in den Mund genommen hat für einen Polizeieinsatz, bei dem es 400 Verletzte gab.
Im Koalitionsvertrag steht, gute Politik wachse von unten
Nach der Basis mucken mittlerweile auch ein paar Parteipromis auf. Zusammen mit Fraktionsgeschäftsführer Sckerl wollen die Stuttgarter Abgeordneten der Grünen noch in diesem Monat ein Gespräch mit dem Innenminister führen; Sckerl hat außerdem angekündigt, bei Justizminister Stickelberger in der Causa Häußler vorstellig werden zu wollen.
Und sogar auf der grünen Regierungsbank hat man wohl den Unmut von unten zur Kenntnis genommen. Denn als vergangenen Donnerstag in der Kreismitgliederversammlung über die Resolution zum Rahmenbefehl abgestimmt wurde, gingen alle Arme hoch. Auch der des Stuttgarter Grünen-Mitglieds (und Verkehrsministers) Winfried Hermann. Und der müsste folgenden Satz aus der Präambel des grün-roten Koalitionsvertrags eigentlich kennen, ebenso wie der Innenminister Gall:
"Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende. Gute Politik wächst von unten, echte Führungsstärke entspringt der Bereitschaft zuzuhören. Für uns ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger eine Bereicherung. Wir wollen mit ihnen im Dialog regieren und eine neue Politik des Gehörtwerdens praktizieren."
Oder wurde der geschrieben "für nix und wieder nix"?
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thomas a
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