Würde Charles Dickens in der heutigen Zeit leben und seine Figur Ebenezer Scrooge durch eine vorweihnachtliche Stadt streifen lassen, würde dieser angesichts teilweise abstrus illuminierter Einkaufsstraßen und Privathäuser womöglich permanent "Bah! Humbug!" ausrufen – sein Lieblingskommentar zu jeglicher Feiertagsseligkeit. Bevor ihm drei Geister erscheinen und er einen radikalen Sinneswandel vollzieht, verkörpert Scrooge in Dickens' berühmter Weihnachtsgeschichte von 1843 den bösen Reichen. Entsprechend lässt der Geschäftsmann zu Beginn der Handlung zwei Spendensammler abblitzen, die den frierenden Armen eine warme Mahlzeit zum Fest spendieren wollten. Sollen die Hungernden halt elendig krepieren – Scrooge erkennt darin zumindest den Vorzug, dass auf diesem Wege die Überbevölkerung wenigstens nicht noch weiter außer Kontrolle gerät, wie er die Herren Gutmenschen wissen lässt. "None of my business", stellt Scrooge klar. Es sei genug, wenn ein Mann sich mit den eigenen Angelegenheiten auskenne und sich nicht in die von anderen einmische. Immerhin zahle er ja schon Steuern, mit denen die Armenhäuser und Gefängnisse finanziert werden.
Und da wird es interessant: Denn der kaltherzige Zyniker wird auf eine Art und Weise porträtiert, die bei kleinen Kindern hoffentlich den Wunsch auslöst, niemals so werden zu wollen – reich, aber armselig. Während Dickens jedoch vermutlich darum bemüht war, den garstigen Geizkragen so unsympathisch wie nur irgend möglich erscheinen zu lassen, wirkt Scrooge verglichen mit realen Superreichen wie Elon Musk oder Peter Thiel verantwortungsbewusst und moralisch integer, ja eigentlich ganz nett.
Scrooge käme zum Beispiel nie auf die Idee, den Neofaschismus zu sponsern, um seine Siegeschancen in einem identitätspolitischen Krieg gegen die woke Gefahr zu verbessern. Scrooge würde sich denken: "None of my business." Scrooge ruft auch nicht: "Steuern sind Raub!" – er zahlt selbstverständlich, denn alles andere wäre ja unvorstellbar asozial. Scrooge hat auch nie mit einer Milliardärsclique den Regierungsapparat gekapert, um den Sozialstaat zu zerschlagen und die öffentlichen Finanzen in einen Selbstbedienungsladen zu verwandeln. Liebe Elons, Donalds und Jeffs: Seid ein bisschen mehr wie Scrooge! Wir wollen Ebenezer zurück!
Besinnlichkeitssimulationen und nötige Besinnung
In Dickens' Geschichte kommt der aus heutiger Sicht moderate Stinkstiefel, am Ende durch die ihm erscheinenden Geister geläutert, zur Besinnung, er wird zum Menschenfreund. Die Vorstellung der Weihnachtszeit als einer besinnlichen scheint also damals schon vorhanden gewesen zu sein – und wenn Geistersichtungen wirklich was bewegen, bleibt wohl nur, auf reihenweise paranormale Erscheinungen zu hoffen.




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