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Die Kontext-Weihnachtsbotschaft

Besinnt euch mal

Die Kontext-Weihnachtsbotschaft: Besinnt euch mal
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 Fotos: Jens Volle und Julian Rettig 

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Ob Blinklichterketten und Mariah-Carey-Gedudel viel zur Besinnlichkeit beitragen, sei dahingestellt, aber sicher ist: Etwas mehr Besinnung täte dringend not. Und vielleicht wären bei einigen Menschen auch Geistererscheinungen hilfreich.

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Würde Charles Dickens in der heutigen Zeit leben und seine Figur Ebenezer Scrooge durch eine vorweihnachtliche Stadt streifen lassen, würde dieser angesichts teilweise abstrus illuminierter Einkaufsstraßen und Privathäuser womöglich permanent "Bah! Humbug!" ausrufen – sein Lieblingskommentar zu jeglicher Feiertagsseligkeit. Bevor ihm drei Geister erscheinen und er einen radikalen Sinneswandel vollzieht, verkörpert Scrooge in Dickens' berühmter Weihnachtsgeschichte von 1843 den bösen Reichen. Entsprechend lässt der Geschäftsmann zu Beginn der Handlung zwei Spendensammler abblitzen, die den frierenden Armen eine warme Mahlzeit zum Fest spendieren wollten. Sollen die Hungernden halt elendig krepieren – Scrooge erkennt darin zumindest den Vorzug, dass auf diesem Wege die Überbevölkerung wenigstens nicht noch weiter außer Kontrolle gerät, wie er die Herren Gutmenschen wissen lässt. "None of my business", stellt Scrooge klar. Es sei genug, wenn ein Mann sich mit den eigenen Angelegenheiten auskenne und sich nicht in die von anderen einmische. Immerhin zahle er ja schon Steuern, mit denen die Armenhäuser und Gefängnisse finanziert werden. 

Und da wird es interessant: Denn der kaltherzige Zyniker wird auf eine Art und Weise porträtiert, die bei kleinen Kindern hoffentlich den Wunsch auslöst, niemals so werden zu wollen – reich, aber armselig. Während Dickens jedoch vermutlich darum bemüht war, den garstigen Geizkragen so unsympathisch wie nur irgend möglich erscheinen zu lassen, wirkt Scrooge verglichen mit realen Superreichen wie Elon Musk oder Peter Thiel verantwortungsbewusst und moralisch integer, ja eigentlich ganz nett. 

Scrooge käme zum Beispiel nie auf die Idee, den Neofaschismus zu sponsern, um seine Siegeschancen in einem identitätspolitischen Krieg gegen die woke Gefahr zu verbessern. Scrooge würde sich denken: "None of my business." Scrooge ruft auch nicht: "Steuern sind Raub!" – er zahlt selbstverständlich, denn alles andere wäre ja unvorstellbar asozial. Scrooge hat auch nie mit einer Milliardärsclique den Regierungsapparat gekapert, um den Sozialstaat zu zerschlagen und die öffentlichen Finanzen in einen Selbstbedienungsladen zu verwandeln. Liebe Elons, Donalds und Jeffs: Seid ein bisschen mehr wie Scrooge! Wir wollen Ebenezer zurück! 

Besinnlichkeitssimulationen und nötige Besinnung

In Dickens' Geschichte kommt der aus heutiger Sicht moderate Stinkstiefel, am Ende durch die ihm erscheinenden Geister geläutert, zur Besinnung, er wird zum Menschenfreund. Die Vorstellung der Weihnachtszeit als einer besinnlichen scheint also damals schon vorhanden gewesen zu sein – und wenn Geistersichtungen wirklich was bewegen, bleibt wohl nur, auf reihenweise paranormale Erscheinungen zu hoffen.

Ob die Weihnachtszeit ihre Zuschreibung als besinnlich angesichts der eher ablenkenden Blinklichterkettendichte und des gedankenmörderischen Mariah-Carey-Gedudels wirklich verdient hat, sei darüber hinaus mal dahingestellt. Sicher ist jedenfalls, dass etwas mehr Besinnung dringend nottäte. Ob Lametta, Plüschrentiere und leuchtende Zuckerstangen dabei helfen? Zumindest erinnern sie an diese besondere Zeit im Jahr – denn von der eingeschneiten Winterwunderwelt, wie sie die Werbeprospekte zum Weihnachtsfest gerne zeigen, hat der Klimawandel hierzulande wenig übrig gelassen. 

Mit etwas Technologieoffenheit bleibt indessen kein Problem ungelöst: Als Kompensation für schmelzende Gletscher gibt es inzwischen nicht nur Hallenski in der Wüste von Dubai. Auch auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt helfen Schaumkanonen nach, eine winterliche Atmosphäre herbeizuzaubern. Das sieht beinah aus wie echter Schnee! Und erhöht auf dem arschglatten Kopfsteinpflaster die Rutschgefahr. 

Als alternativer Weihnachtsgruß hat sich über die vergangenen Jahre "Merry Crisis" etabliert, wörtlich übersetzt heißt das so viel wie "fidele Krise". Und das ist genau die richtige Herangehensweise: Wenn man schon genötigt ist, sich in diesen sonderbaren Verhältnissen der Gegenwart irgendwie häuslich einzurichten, dann ist mehr Flausch besser als kein Flausch. Also machen Sie es wie der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper mit seinem Riesenrad auf dem Schlossplatz, setzen Sie gerade in finsteren Zeiten ein leuchtendes Zeichen der Zuversicht. Und wenn das nächste Mal irgendwelche Stromschwurbler behaupten, dank der Energiewende gingen hier bei der nächsten Dunkelflaute die Lichter aus, signalisiert ihnen mein blinkender LED-Dackel: von wegen!

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