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Soziale Bewegungen

Der Kampf auf den Straßen

Soziale Bewegungen: Der Kampf auf den Straßen

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Die Stuttgarter Soziologin Annette Ohme-Reinecke hat ein Buch geschrieben über soziale Bewegungen im Laufe der Geschichte – ob Französische Revolution oder Fridays for Future. Eine kleine Perle lesen Sie auszugsweise hier. Denn gegen überteuerte Großprojekte wie heute Stuttgart 21 haben sich die Leute schon vor 300 Jahren gewehrt.

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Wir befinden uns am Anfang des 18. Jahrhunderts, Spätbarock im Übergang zum Rokoko mit seiner verspielten Ornamentik. Es ist die Zeit von Bach und Händel, Antonio Stradivari arbeitet an Geigen, die zu den teuersten Saiteninstrumenten der Welt werden sollten. In Genf in der Schweiz werden zu der Zeit als Reaktion auf den großen Zustrom protestantischer Flüchtlinge die Befestigungsanlagen der Stadt aufwendig ausgebaut.

(...) Darüber entbrannte ein heftiger öffentlicher Streit, denn die hohen Kosten erregten großen Unmut, handelte es sich doch um das bis dahin teuerste Bauprojekt in der Geschichte der Schweiz. Auch Micheli du Crest, seinerzeit Hauptmann und Mitglied einer Patrizier-Familie, hielt das Projekt für untauglich und entwickelte verschiedene Gegenvorschläge, die wesentlich billiger und, seiner Auffassung nach, effizienter waren. Er plädierte energisch für die Veränderung des Baus im Sinne eines sparsamen Staatshaushalts, legte sich mit der gesamten Regierung an und wurde zu einem Wortführer der Gegner des Projekts. "In der Geschichte der Schweiz und Kontinentaleuropas bildet diese Form der Auseinandersetzung eine Neuheit: die Geburt der parlamentarischen Opposition aus dem Geiste des wissenschaftlichen Tadels." (Meier 1999)

Die Auseinandersetzungen verliefen oft handgreiflich. So versammelten sich am 4. März 1734 tausend bewaffnete Bürger vor dem Rathaus und erklärten, dass das Festungsprojekt und dessen Finanzierung von der Bevölkerung abgelehnt werde und verfassungswidrig sei. Mehrere Personen wurden noch während der Versammlung inhaftiert, konnten jedoch kurze Zeit später von einer Gruppe aufgebrachter Bürger befreit werden. Micheli du Crest wurde aus der Stadt verbannt und ihm seine Bürgerrechte aberkannt. Daraufhin agierte er eine Weile von Paris aus, verfasste politische Schriften und wurde wegen Anstiftung zum Bürgerkrieg angeklagt.

Seine Verteidigungsrede vor Gericht erregte großes Aufsehen: Wirklich zuständig für eine Entscheidung über die Befestigungsanlagen, so du Crest, seien weder der amtierende Große Rat noch der ebenfalls amtierende kleine Rat "noch irgendein sonstiges Gericht, sondern allein der Generalrat [die Vollversammlung] als Vertreter des souveränen Volkes". Damit hatte du Crest die seinerzeit unerhörte Forderung gestellt, dass die Entscheidung über das technische Großprojekt von der Mehrheit der Bürger und nicht von einem kleinen Kreis Regierender getroffen werden solle.

Um dies zu verwirklichen, forderte er die Wiedereinrichtung des Conseile général, des allgemeinen Rats, der großen Versammlung als höchster Entscheidungsmacht. Diese Einrichtung war nach der Reformation 1536 Souverän der Stadtrepublik gewesen, wurde aber in der Folgezeit immer stärker beschnitten und entmachtet. Nur ein Generalrat, meinte du Crest, verkörpere eine souveräne Einwohnerschaft. Obwohl sich die Stimmberechtigten aller großen Versammlungen seit je her als Seigneurs souverains bezeichneten, galt diese Ansicht als Hochverrat. Als Lehre aus den Auseinandersetzungen um das Bauprojekt forderte er außerdem, dass Öffentlichkeit und Transparenz unbedingt verwirklicht und die herrschende Geheimhaltung abgeschafft werden müsse. Erst eine Veröffentlichung der Pläne und Erlasse des Großprojekts durch die Regierung und die Mitsprache der Öffentlichkeit biete die Möglichkeit der korrektiven Kontrolle der Regierung.

Freiheit und Souveränität gehörten zusammen, so du Crest. Wenn die Leute selbst nicht den Souverän bildeten, weil sie nicht das Recht hätten, "die Handlungen ihrer Regierung zu überblicken", wären sie auch nicht frei. Du Crests Verteidigungsrede wurde gedruckt und gehörte später zu den in Genf zirkulierenden geheimen Schriften. Du Crest hatte bald großen Einfluss auf den kritischen Diskurs und den Ruf des "politischen Lehrers von Genf".

Als sich die Auseinandersetzungen um die Befestigungsanlage im Jahr 1737 zuspitzten, konnten die Aufständischen nur durch militärische Hilfe Frankreichs in Schach gehalten werden, etwa dreitausend Personen mussten bald die Stadt verlassen. Der Streit wurde 1738 schließlich im Rahmen der sogenannten Genfer Mediation geschlichtet und verschiedene Zugeständnisse gemacht. So erhielt der Generalrat wieder mehr Rechte und Erlasse sollten erstmals in gedruckter Form der Öffentlichkeit vorgelegt werden. Auch die Folter wurde abgeschafft. Micheli du Crest, der wohl erste Bürger, der sich hartnäckig gegen ein technisches Großprojekt zur Wehr gesetzt und eine große Anhängerschaft hatte, wurde für zwanzig Jahre inhaftiert und war damit der am längsten einsitzende Gefangene der Schweiz. (...)


Am Donnerstag, 4. September um 19 Uhr stellt die Autorin ihr Buch im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart vor, moderiert wird der Abend von Nisha Toussaint-Teachout von den Fridays for Future. "Soziale Bewegungen – Ursprünge und aktuelle Formen" von Annette Ohme-Reinicke ist auf 334 Seiten im Schmetterling Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro.

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