KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Bauprojekt in Unterjesingen

Die genossenschaftliche Dorfmitte

Bauprojekt in Unterjesingen: Die genossenschaftliche Dorfmitte
|

Datum:

Wenn alte Menschen aus ihren viel zu großen Wohnungen und Häusern auszögen, wäre das Wohnungsproblem gelöst. Eine Genossenschaft in Unterjesingen bei Tübingen macht vor, wie das gehen könnte. Sie hat viele Hürden zu überwinden.

Zurück Weiter

"Vor einem Jahr war die Stimmung ziemlich auf dem Tiefpunkt", berichtet Gabriele Göhring, Vorständin der Genossenschaft "Unterjesingen gut leben", die altengerechte Wohnungen bauen und dem Stadtteil eine neue Ortsmitte geben will. Unterjesingen war bis 1971 eine eigenständige Ortschaft, wurde dann nach Tübingen eingemeindet und grenzt als westlichstes Viertel der Stadt an den Naturpark Schönbuch. In dem früheren Dorf gibt es noch einen Metzger, ein ausgeprägtes Vereinsleben – und einen seit vielen Jahren brachliegenden Ortskern. Der soll nun mit einem vorbildlichen Wohnprojekt belebt werden.

Zwischenzeitlich sah es allerdings schwierig aus: Noch im Gründungsjahr 2021 erhielt die Genossenschaft zwar aus dem Landesprogramm "Gemeinsam unterstützt und versorgt wohnen 2022" eine Förderung in Höhe von 415.000 Euro. Ein Architekturbüro wurde beauftragt und reichte das Baugesuch ein. Dann kam die Baukostenkrise. Die Zinsen stiegen. Die Genoss:innen dachten: Wir schaffen das nicht.

Doch dann stieß im April 2024 Ulrich Otto dazu. Er war früher Professor für Sozialmanagement an der Universität Jena und hat Forschungsprojekte in der Schweiz geleitet, zuletzt an einer privaten Hochschule in Zürich, bevor er 2020 wieder nach Tübingen zurückkehrte, wo er einst studierte und sich habilitiert hat.

Ottos Gebiet ist die Gerontologie, die Altersforschung. Schon seinen Zivildienst hat er in der Demenzstation eines Altenpflegeheims gemacht. Zugleich begeistert er sich für neue Wohnformen, seit er in Zürich die neuen Entwicklungen im genossenschaftlichen Wohnungsbau aus nächster Nähe kennenlernte. Otto hat auch das Groß-Wohnprojekt Neustart Tübingen beraten, bei der Genossenschaftsgründung geholfen und Förderanträge geschrieben.

Das Wohnzimmer des ganzen Ortes

Für das gute Leben in Unterjesingen schrieb er ebenfalls einen weiteren Förderantrag, aus Begeisterung für das Projekt, gerichtet an das neue Programm AGIL des Bundesfamilienministeriums für altersgerechtes, gemeinschaftliches und inklusives Leben. Unter 100 Einreichungen erhielt Unterjesingen als eines von sieben Projekten den Zuschlag: weitere 280.000 Euro. Otto trat in den Vorstand der Tübinger Nestbau AG ein und wurde dann der Projektsteuerer. "Der Uli kam hier an wie vom Himmel geschickt", meint Göhring. Durch das neue Geld wendete sich die Stimmung wieder zum Guten, eine Dynamik entwickelte sich, die viele mitgerissen hat.

Seniorengerechtes Bauen, barrierefrei, mit Assistenzsystemen im Pflegefall, aber auch eine Mischung von Nutzungen, Einkommen und Alter: Das fordern die Architektenverbände seit vielen Jahren. Denn ein großer Teil des Wohnungsproblems besteht darin, dass alte Menschen oft in viel zu großen Wohnungen wohnen – und zugleich schlecht betreut werden: weil sie keine guten Angebote finden. Die Kommunen kriegen das selten zufriedenstellend hin. Die Genossenschaft "Unterjesingen gut leben" macht vor, wie es funktionieren könnte. Sie stößt allerdings auf widrige Bedingungen.

"Wir bauen hier 18 Wohnungen für sieben Millionen Euro und müssen noch eine Million zusätzlich für die Scheuer aufbringen", erklärt Otto. Die Scheuer: Das ist durchaus ein Herzensanliegen der Genossenschaft. Ein denkmalgeschützter Bau aus dem Jahr 1678, der zur neuen Ortsmitte werden soll und insofern über ein Alten-Wohnprojekt hinaus für den ganzen Ort von Interesse ist: "Unser Wohnzimmer", wie man in Unterjesingen sagt.

Aber woher soll die Genossenschaft, in Zeiten schier unbezahlbarer Baukosten und Zinsen, die Mittel nehmen? Bis zu 100.000 Euro hat die Deutsche Stiftung Denkmalschutz in Aussicht gestellt. Auch das Landesdenkmalamt könnte helfen. Doch die denkmalgerechte Sanierung und der Umbau zu einem Veranstaltungsort sind damit noch nicht finanziert.

Die Banken fordern Sicherheiten: Sie wollen wissen, wie viel Geld da ist, bevor sie einsteigen. Nach drei vergeblichen Versuchen erklärte sich schließlich die Kreissparkasse Tübingen zu einem Kredit über die Hälfte der Baukosten bereit. Allerdings zu einem hohen Zinssatz von 4,1 Prozent. Private Häuslebauer zahlen nur 3,3 Prozent. Könnt ihr die Wohnungen nicht teurer vermieten?, wollten die Bank-Leute wissen. Nein, geht nicht. Die Stadt Tübingen verlangt, dass sie im Bereich des Mietspiegels liegen und ein Anteil an Sozialwohnungen dabei ist. 

Sparen durch Eigenarbeit

Das Projekt richtet sich nicht ausschließlich an Senior:innen: "Unterjesingen. Gut. Leben. In jedem Alter!" lautet der volle Name der Genossenschaft. Potenzielle künftige Bewohner:innen verstehen oft nicht, warum sie zuerst Genossenschaftsanteile erwerben und dann auch noch Miete zahlen sollen. Dass Mitglieder einer Wohnungsbaugenossenschaft nicht nur Mieter, sondern zugleich ihr eigener Vermieter sind, ist auch anderswo nicht immer allen klar.

Als "Haupt-Thema" Unterjesingens hat Alexander Muders, der neue Ortsvorsteher, das Wohnprojekt bezeichnet, das tatsächlich schon vor elf Jahren mit zwei Machbarkeitsstudien und einer Bürgerbeteiligung begann. Die Grundstücke gehörten der Stadt Tübingen und der kommunalen Wohnungsgesellschaft GWG. Ende Mai hat die Genossenschaft sie erworben. Das war dringend nötig, um anfangen zu können. Denn sonst wäre die Landes-Förderung, verlängert bis 30. Juni 2025, verfallen.

Gabriele Göhring ist nicht nur Vorständin der Genossenschaft, sondern auch des Unterjesinger Krankenpflegevereins, eines ambulanten Kranken- und Altenpflegediensts, der gleich nebenan seinen Sitz hat. Sie ist die Seele des Projekts: Sie kennt jede:n im Ort, sagt Otto, wie sich gleich herausstellt, als ein ehemaliger Dekan der Evangelischen Landeskirche vorbeikommt, dessen Frau neuerdings Pfarrerin in Unterjesingen ist. 22 Vereine gibt es in Unterjesingen, erzählt sie, und 15 Winzer, die bei Genossenschaftsversammlungen für Bewirtung sorgen und hinterher immer abwinken: Das kostet nichts.

Ein arbeitsreiches Jahr liegt hinter den Genoss:innen. Versammlungen wurden organisiert, das Projekt im Ortschaftsrat vorgestellt, erste Aufträge vergeben. Der Architekt Gottfried Haefele ist derselbe, der bereits die Machbarkeitsstudien angefertigt hat. Der Projektsteuerer, die Nestbau AG mit ihrem Vorstand Otto, ist eine weitere Tübinger Besonderheit: eine nichtkommerzielle Aktiengesellschaft in Bürgerhand. Nachhaltig, ethisch, sicher, transparent lautet die Auflösung des Akronyms.

Das wichtigste Kapital der Genossenschaft sind jedoch die Unterjesinger. Durch Eigenarbeit will die Genossenschaft 30.000 Euro einsparen. Vier Arbeitseinsätze hat es bisher gegeben. Sie hätten Listen ausgelegt, erzählt Göhring, doch kaum einer trug sich ein. Dann standen plötzlich 17 Leute da: überwiegend Genossenschaftsmitglieder, aber auch andere, im Alter von 14 bis 80 Jahren, vom Handwerker bis zum Professor. Die Feuerwehr gleich nebenan stellt ihre Räume zur Verfügung. Immer mit dabei: der Bauforscher Tilmann Marstaller, der Befundfenster freilegt, um den Wandaufbau zu untersuchen.

Kurze Wege für gute Pflege

Es geht darum, die Häuser auszuräumen und die zwei Gebäude vorne an der Straße für den Abbruch vorzubereiten. Unterjesingen ist ein Straßendorf ohne eigentliche Ortsmitte. Man könnte auch sagen: ein Bundesstraßendorf. Auf der B 296 direkt vor dem Grundstück rollt pausenlos der Verkehr. Fußgängerampeln brauchen gefühlt eine halbe Ewigkeit und schalten schnell wieder auf rot. Zwei Häuser an der Straße, eines alt, das andere aus den 1980er-Jahren, sollen abgerissen und durch drei Häuser mit drei Wohngeschossen ersetzt werden. Auch eine Arztpraxis will einziehen.

In der mittleren Wohnetage zieht sich durch alle Gebäude, auch über einen Durchgang zur Scheune hinweg, die Pflege-WG. Sie hat acht Zimmer, vier Bäder und ist für Menschen gedacht, die sonst ins Pflegeheim müssten. Zwei Alltagsbegleiterinnen sind abwechselnd rund um die Uhr anwesend und wohnen auch auf derselben Etage. Nebenan der ambulante Pflegedienst, die Arztpraxis zwei Stock tiefer: Es fehlt an nichts.

Die übrigen Wohnungen haben 1,5 bis zwei Zimmer. Alle sind barrierearm, sechs komplett barrierefrei. Die Kaltmiete liegt zwischen 360 und 850 Euro. Menschen mit Wohnberechtigungsschein zahlen ein Drittel weniger, da es sich zur Hälfte um geförderten Wohnraum handelt. Die Genossenschafts-Pflichtanteile für Mieter:innen stellen allerdings eine Hürde dar. Sie belaufen sich nach derzeitigem Stand auf 26.500 bis 84.500 Euro. Zwar kann, wer das nicht hat, zinsgünstige Darlehen beantragen. Doch viele zögern: Wie sicher ist mein Geld? Steht überhaupt schon fest, dass das Projekt tatsächlich realisiert werden kann?

Die Katze beißt sich hier ein wenig in den Schwanz: Je mehr Menschen Anteile zeichnen, desto mehr Eigenkapital kann die Genossenschaft vorweisen. Bisher sind vier Wohnungen vergeben, allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Jetzt heißt es, nach weiteren Bewerber:innen Ausschau zu halten. Und nach Unterstützer:innen, die Anteile erwerben oder Privatkredite zur Verfügung stellen, ohne selbst dort leben zu wollen.

Wer einziehen will, muss aber auch loslassen können. Die Wohnungen sind klein, zwischen 30 und 50 Quadratmeter. Dafür erhalten die Bewohner:innen ein lebenslanges Wohnrecht, bei Bedarf mit Betreuung. Und befinden sich mitten im neuen Ortszentrum: Die alte Scheuer soll Treffpunkt für den gesamten Ort werden, mit Konzerten, Lesungen, Diskussionen, Kabarett, vielleicht aber auch einem gemeinsamen Mittagstisch.

Schon jetzt bringt das Projekt die Menschen zusammen. Es ist fast zum Erfolg verdammt. Denn wenn Unterjesingen nicht schafft, was auch die Kommunen nicht hinkriegen, mit so viel Engagement des gesamten Dorfs und Expert:innen wie Gabriele Döhring und Ulrich Otto: Wer sollte dann ein solches Vorhaben stemmen? Projekte wie dieses bräuchte es überall. Unterjesingen könnte das Vorbild sein.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!