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"Der Reisende" am Stuttgarter Theater Tri-Bühne

Mit KI in die NS-Zeit

"Der Reisende" am Stuttgarter Theater Tri-Bühne: Mit KI in die NS-Zeit
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Als der Roman "Der Reisende" von Ulrich A. Boschwitz 2018 – 80 Jahre nach seiner Entstehung – erstmals in Deutschland erschien, feierte das Feuilleton ihn als literarische Sensation. Die Geschichte des jüdischen Geschäftsmanns Otto Silbermann in Nazi-Deutschland kommt nun in Stuttgart auf die Bühne.

Die Synagogen brannten. SA-Männer schlugen die Schaufensterscheiben von jüdischen Geschäften ein. Sie verhafteten die Besitzer und raubten sie aus. Viele Menschen jüdischer Herkunft wurden festgenommen, deportiert und ermordet. Waren Jüdinnen und Juden im "Dritten Reich" auch schon vorher schikaniert und ausgegrenzt worden, so musste nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 jedem klar sein, dass sie im NS-Deutschland nicht erwünscht waren. Dass ihr Leben bedroht war.

Ulrich Alexander Boschwitz, Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter, befand sich da schon nicht mehr in Deutschland. Er war 1935 mit seiner Mutter nach Schweden emigriert, zog über Norwegen, Frankreich, Luxemburg und Belgien schließlich weiter nach England. Die Novemberpogrome hat er zwar nicht selbst erlebt, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie es jüdischen Menschen in seinem Heimatland erging. In Belgien schrieb er 1938 seinen Roman "Der Reisende", der wenig später in England, in Deutschland jedoch erst 2018 erschien. Er erzählt vom angesehenen, jüdischen Geschäftsmann Otto Silbermann, der in der Pogromnacht aus seinem Haus vertrieben wird und von da an in Zügen unterwegs ist in einem Land, das er nicht verlassen darf.

László Bagossy, Regisseur und Intendant des Stuttgarter Theaters Tri-Bühne hat Boschwitz' Roman für die Bühne adaptiert. Das Besondere: Er nutzte Künstliche Intelligenz (KI) für die Projektionen. Premiere war Ende Juni, nun folgen zwei weitere Aufführungen am Freitag und Samstag. Manuel Krstanovic steht als Otto Silbermann 90 Minuten lang allein auf der Bühne. Doch er ist umgeben von anderen Figuren: Mitreisende im Zugabteil, Beamte in Uniform, Geschäfts- und Gesprächspartner:innen. Sie erscheinen als statische, auf Leinwand projizierte Bilder, sie geben dem Raum Tiefe und lassen die Zuschauer:innen in das Geschehen eintauchen.

Der Roman ist in der dritten Person geschrieben, und in der dritten Person spricht zunächst auch Krstranovic von der Figur, die er selbst verkörpert: "Otto Silbermann kam vor dem Haus an, in dem er wohnte."

Eine Schaufensterpuppe steht auf der Bühne. Sie trägt den braunen Mantel und Hut, die den Protagonisten kennzeichnen, bevor Krstanovic sie anlegt und damit in seine Rolle hineinschlüpft.

Unrecht ist zum Gesetz geworden

Krstanovic ist der Erzähler, aber er verkörpert auch Silbermann. Die Anführungszeichen im Text hört man nicht. Und er übernimmt auch die Rollen aller anderen Personen, die Silbermann trifft. In der ersten Szene die der Portiersgattin Frau Friedrichs und der Geheimrätin Zänkel. Als Erzähler: "In gewisser Weise freute sich Silbermann über ihr unverändert gebliebenes Benehmen." Frau Zänkel wird als liebenswürdig beschrieben. "Man hat uns eine sonderbare Rolle zugewiesen”, sagt Silbermann zu ihr. "Sie müssen trotzdem gerecht denken und verständnisvoll”, meint sie. "Ist das nicht ein wenig viel verlangt, gnädige Frau?”, wendet er ein. Wovon sie reden, ist klar. Auf die Leinwand projiezierte Bilder einer brennenden Synagoge mit Davidstern führen unmissverständlich vor Augen, dass es sich um die Zeit nach dem 10. November 1938 handelt.

Das Haus, in dem Otto Silbermann wohnt, ist bald nicht mehr das seine. Schon steht Theo Findler im Herrenzimmer, bereit es ihm abzukaufen. Aber er bietet nicht die 200.000 Mark, die das Haus nach Silbermanns Einschätzung wert ist, auch nicht die 30.000, die er verlangt. Bei 10.000 Mark willigt Silbermann schließlich ein, als es schon an der Tür klopft: "Jude, aufmachen!"

Silbermann entkommt, seine Frau flieht nach der Razzia zu ihren Verwandten nach Küstrin. Als er später selbst dort unterzuschlüpfen versucht, bekommt er Elfriede nicht einmal mehr ans Telefon. "Bitte, reg dich nicht auf, Otto", bedeutet ihm Elfriedes Bruder. "Ich kann meine Existenz nicht ruinieren. Wenn die Partei herausfindet, dass ich einen jüdischen Schwager habe und ihm sogar erlaube, bei mir zu wohnen, dann kann ich gleich meinen Koffer packen." Silbermann sieht seine Frau nicht mehr wieder.

Der Roman – und damit das Stück – führt einerseits auf mitreißende Weise die Dramatik der Situation vor Augen, in der sich der Protagonist befindet. Zugleich macht er aber auch die Motive derjenigen begreiflich, die Silbermann wie sein Schwager plötzlich die kalte Schulter zeigen. Autor Boschwitz entschuldigt sie nicht, greift sie aber auch nicht an. Er überlässt es den Leser:innen, sich selbst ein Urteil zu bilden, führt das mörderische Uhrwerk der Verfolgung vor Augen: Unrecht ist zum Gesetz geworden. Wer sich nicht daran hält, macht sich strafbar.

Gefangen im Reisen

Ein Ehepaar nimmt in Silbermanns Abteil Platz. "Der Mann könnte gut ein Jude sein", denkt Silbermann. "Aber dann bemerkte er, dass der Mann das goldene Parteiabzeichen auf seinem Rockaufschlag trug." Er fragt sich: "Wer hätte das denken können? So was. Mitten in Europa – im zwanzigsten Jahrhundert!" Gleichwohl macht er – ein assimilierter Jude – später seine Leidensgenossen für sein Schicksal verantwortlich. "Es sind zu viel Juden im Zug. Wenn ihr nicht wärt, dann könnte ich in Frieden leben", meint er. "Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich nicht verfolgen. Aber weil ihr existiert, werde ich mit euch ausgerottet. Wegen euch stecke ich in diesem Schlamassel. Dabei haben wir nichts miteinander zu tun!"

Silbermann versucht, nach Belgien zu entkommen, wird aber von Grenzbeamten zurückgeschickt. Von nun an sitzt er nur noch im Zug. "Ich reise, reise einfach weiter", erklärt er einer Dame in seinem Abteil, der er sich anvertraut hat, "bis man zuschlägt, bis ein SA-Mann mich zum Stehen bringt".

Er befindet sich auf Reisen und ist doch gefangen. Er kommt mit seinen Mitreisenden im Zugabteil ins Gespräch und bleibt doch mit seiner Situation allein.

Die dramatische Handlung, in einer Szenerie, die von Anfang an als NS-Zeit gekennzeichnet ist, zieht das Publikum in das Geschehen hinein. Der Zuschauer oder die Zuschauerin achtet bald nicht mehr darauf, ob Krstanovic über oder als Otto Silbermann spricht oder gar – immerhin steht er allein auf der Bühne – als eine der anderen Figuren. Das Gesicht der Frau im Abteil ist viel größer als der Kopf des Schauspielers. Das erzeugt eine besondere Nähe, wie eine Nahaufnahme im Film.

In einer anderen Szene verkörpert Krstanovic stehend den im Bett liegenden Silbermann. Das geht nur mit Hilfe der Bilder, hier dem Hintergrund eines von oben gesehenen Betts. Mysteriöserweise verschwindet der Schauspieler manchmal auch hinter den Bildern, die seine Umgebung zeigen. Die Zuschauer:innen wissen nicht, dass er sie nicht sehen kann. Krstanovic agiert in einem engen Raum zwischen zwei Leinwänden, auf die von hinten und vorn Bilder projiziert werden. Für ihn sind sie undurchsichtig. Eine doppelbödige Angelegenheit. In gewisser Weise ist der Schauspieler gefangen, zwischen den Projektionen, ganz auf sich gestellt. Wie Otto Silbermann.

Die Bilder liefert eine Software

Projektionen sind diese Bilder insofern, als sie vom Beamer auf die Leinwand geworfen werden. Aber sie sind auch Projektionen im übertragenen Sinne, da sie nicht die Realität wiedergeben, sondern Vorstellungen von der NS-Zeit. Und auch in diesem Sinn sind sie doppelbödig. Sie zeigen, wie sich der Autor die Situation jüdischer Menschen in Deutschland nach den Novemberpogromen vorgestellt hat; das aber in KI-generierten Bildern. Diese Bilder stammen von der Bilderstellungs-Software Midjourney.

Dieses Vorgehen erweist sich als erstaunlich schlüssig. Denn das Programm reagiert auf den Befehl "Imagine" - "Stell dir vor". Die künstliche Intelligenz kann sich aber nur etwas vorstellen auf der Grundlage zuvor eingespeister, bestehender Bilder: Fotos, Filme, dokumentarische Aufnahmen aus der NS-Zeit, aber auch Spielfilme. So erzeugt die Software automatisch genau die Bilder, die wir erwarten, sie zeigt die Szenerien und die Menschen so, wie wir sie uns vorstellen: etwa das Grenzgebiet mit den belgischen Soldaten, die einfühlsame "arische" Mitreisende im Zugabteil oder am Schluss die Polizeiwache in Hamburg.

Das Programm funktioniert ziemlich gut, erklärt Regisseur Bagossy. Neben Sprachbefehlen, also Beschreibungen der gewünschten Bilder oder Personen, kann man auch ähnliche Bilder, so genannte Image Prompts verwenden, die dem Programm zeigen, wie die Bilder aussehen sollen. Nur manchmal musste der Regisseur die KI überlisten: Bei einem Hakenkreuz etwa weigerte sich die Software, die nicht unterscheiden kann, wer ihre Nutzer:innen sind und was sie im Schilde führen.

Wo sind die Grenzen von Realität und Fantasie? "Der Reisende" dokumentiert nicht die Wirklichkeit im NS-Staat, sondern der Autor Ulrich A. Boschwitz spielt alle erdenklichen Situationen durch, in die Menschen wie er zu jener Zeit geraten konnten. Und der Regisseur hat dafür nach den passenden Bildern gesucht. Für Silbermann gibt es keinen Ausweg, und genau das wollte Boschwitz zeigen.

Der Autor selbst kam seinem Protagonisten am nächsten, als er auf seiner Flucht von Land zu Land aus Luxemburg ausgewiesen wurde und über Belgien nach England weiterzog. Auch er war ein Reisender, zwar im Exil, aber nirgends willkommen. In England nach Kriegsbeginn interniert, wurde er nach Australien abgeschoben. Als englischer Soldat kehrte er zurück, kam jedoch nicht mehr an. Sein Schiff wurde von einem deutschen Torpedo getroffen. Boschwitz kam im Alter von 27 Jahren ums Leben. Auch seine Reise hatte keinen Ausweg.


"Der Reisende" ist am Freitag, 11. und Samstag, 12. Oktober jeweils um 19 Uhr im Stuttgarter Theater Tri-Bühne zu sehen.

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