Doch nicht nur wegen des Nachholbedarfs war das diesjährige Rutenfest ein besonders: Mit den neu gegründeten "Turmfalken" darf sich erstmals seit 1645 eine rein weibliche Gruppe beim Musizieren beteiligen. Die Schülerinnen, überwiegend zwischen 16 und 18 Jahre alt, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit – und sind zu Anbeginn sichtlich angespannt. Trotzdem geht der erste Auftritt gut, das Publikum reagiert mit begeistertem Applaus und den Heranwachsenden fällt ein Stein vom Herzen. Grund für Nervosität gab es genug, denn bis die Frauentruppe spielen durfte, war es ein weiter Weg mit vielen Kontroversen.
Als zwei ehemalige "Landsknechte" im Sommer 2019 anregten, die rein männliche Trommelgruppe für das weibliche Geschlecht zu öffnen, "sei ihnen in einer Ravensburger Altstadtkneipe mit Prügel gedroht worden", berichtet die taz. Eltern und Schüler:innen, die den Vorstoß unterstützten, warf Dieter Graf von der Rutenfestkommission laut der "Schwäbischen Zeitung" vor, "vom Fest nicht viel verstanden zu haben. Traditionsreiche Trommlergruppen zwingen zu wollen, Mädchen aufzunehmen, verbiete sich von selbst".
Auch der sogenannte Rutenhauptmann des ebenfalls schwanzpflichtigen "Trommlerkorps" äußerte sich damals zum Sachverhalt: "Wir im Trommlerkorps diskriminieren keine Frauen. Wir sind vielmehr stolz und froh über unsere Trommlerbräute." Was einen Leserbriefschreiber in der "Schwäbischen Zeitung" zur Frage provozierte: "Ist das Trommlerkorps denn auch stolz auf die Tradition des Wählens der Trommlerkuh, also der hässlichsten Trommlerbraut?"
Traditionalisten ohne Geschichtsbewusstsein
Kurios bleibt: Wo die Tradition noch groß geschrieben wird, ist in Vergessenheit geraten, was die Tradition begründet. So klagte der Theologe Anton Birlinger bereits 1862 im zweiten Band von "Volksthümliches aus Schwaben", es sei "sehr zu bedauern, daß über den eigentlichen Ursprung des Schuljugendfestes: 'Rutenfest' genannt, und der Gebräuche desselben keine Nachrichten vorliegen."
Verschiedene Erklärungsansätze kursieren, warum gefeiert werde. Der Volksmund wisse zu berichten, "daß eine grassierende Pest ihm Gevatter gestanden habe", schreibt die "Allgemeine Zeitung" am 2. September 1899: "Um beim Austausch von üblichen Höflichkeiten Ansteckung zu vermeiden seitens der sich Begrüßenden soll man die Ruthe (Zweig, Gerte) derart zuhülfe genommen haben, daß die sich Begegnenden beiderseits ein Ende dieser erfassten und auf solche Weise den Handschlag vermittelten." Demnach sei das Rutenfest aus der Dankbarkeit, die Seuche überstanden zu haben, erwachsen. Analog dazu könnten nach Corona Ellenbogenpartys oder die Ghettofaust-Wochen entstehen.
Allerdings liegen keinerlei Belege dafür vor, dass es sich bei der Begrüßung per Rute um eine reale Praxis gehandelt hat, und gemessen am Hygienebewusstsein des Mittelalters wäre es eine ziemlich fortschrittliche Methode. Ein zweiter Erklärungsansatz begründet den Brauch durch Ausflüge ins Grüne, die das Lehrpersonal mit den ihm anvertrauten Kindern im 15. Jahrhundert unternommen haben soll, um Ruten für die Züchtigung der Kleinen zurecht zu schneiden. Allerdings fehlen auch hier konkrete Quellen, wann daraus ein Fest geworden sein soll. "Welche Ansicht der Wahrheit am nächsten liege, muß dahingestellt bleiben", urteilt Theologe Birlinger.
"Querdenken"-Demo als Rutenfest-Substitut
Gesichert ist allerdings, dass der Infektionsschutz dem Chef der Rutenfestkommission ein Dorn im Auge ist, wo er den Feierlichkeiten in die Quere kommt. Als das Fest 2020 wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, traf sich Dieter Graf zum Gespräch mit den "Querdenkern" Bodo Schiffmann und Daniel Langhans. Dabei betonte er die lange Geschichte des Rutenfests: "Und es ist insgesamt jetzt das fünfte Mal abgesagt. Einmal wegen Maul- und Klauenseuche, drei Mal wegen Krieg, einmal wegen kein Geld und jetzt wegen dieser Geschichte." Schiffmann lauscht empört, wie Schausteller:innen in die Pleite getrieben würden, und fordert dann: "Diese Stadt muss auseinanderbrechen – von allen, die jetzt von der Insolvenz bedroht sind." – "Also ich schreib's denen gern noch mal", erwidert Graf.
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AndreasP
am 29.07.2024