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Hinter der Postkarte

Stadt mit zwei Gesichtern

Hinter der Postkarte: Stadt mit zwei Gesichtern
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Alles hat ein Ende, nur Metzingen hat zwei: die Outletcity und das traditionelle Metzingen. Im einen steckt ein Haufen Geld, das andere fußt auf Ehrenamt und Unsicherheit. Ein Besuch in zwei Welten.

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"Dich will ich loben: Häßliches, du hast so was Verläßliches" schrieb Robert Gernhardt in seinem Gedicht "Nachdem er durch Metzingen gegangen war", das 1987 im Band "Körper in Cafés" erschien. Knapp zehn Jahre bevor die Stadt 40 Kilometer südlich von Stuttgart "Outletcity" wurde. 20 Jahre nach Erscheinen von Gernhardts Gedicht sprach die "Neue Züricher Zeitung" gar vom "Prinzip Metzingen", das überall herrsche: "Überall treffen wir auf jene Form ästhetischer Besinnungslosigkeit, die Gewerbegebiete wuchern lässt, raumgreifend Flächen für den Strassenbau planiert, anspruchslose neben charakterstarke Bauten setzt, erst Historisches liquidiert und dann, in nachholender Sentimentalität, das hingeklotzte Neue auf altertümlich schminkt."

"Zwischen Bahnhof und Kelter" sei das Stück Metzingen, das Gernhardt beschrieben habe, sagt Walter Dieterle, 65 Jahre alt, Wirt der Kulturkneipe Hirsch in Glems, dem kleinsten Teilort von Metzingen, der fünf Kilometer von der Kernstadt entfernt an der Schwäbischen Alb liegt. In seiner Jugend war Metzingen ein "Kuhdorf, da war einfach nix". Vor 27 Jahren hat er die Kulturkneipe übernommen, traditionell viel vegetarisches Essen, geräumige Wohnzimmeratmosphäre, viel Holz und Bandplakate. Acts wie Wishbone Ash, T.Rex und Georg Danzer haben dort gespielt. Vom Bund gab es mal den "Applaus"-Preis für die besten 20 bis 30 Live-Clubs in Deutschland. Dieterle ist auch Vorsitzender des Kulturvereins "z.B. Glems". Die Namensgebung des Vereins "hat vermutlich mit viel Hefeweizen zu tun", sagt Dieterle.

Mittlerweile gibt es in Glems nur noch eine Bäckerei und nicht einmal einen Bankautomaten. Die Ausgaben fürs Wohnen schießen derweil auch im Teilort der Outletcity in die Höhe, so Dieterle. Wohnen ist in ganz Metzingen ein Thema. Dies mag ein Grund dafür sein, dass trotz 12.000 Arbeitsplätzen in Metzingen Ende 2020 nur noch gut 22.000 Menschen lebten und damit rund 1.000 weniger als Ende 2017. Der Verein "z.B. Glems" bekomme für die Kulturarbeit "eigentlich nix" von den circa 200.000 Euro, die Metzingen im Jahr für Kultur ausgebe. Dabei mache Dieterles Kneipe die Hauptarbeit im Kulturbereich für 30- bis 70-Jährige. Ältere BürgerInnen bediene der "Veranstaltungsring", jüngere der selbstorganisierte "Club Thing". Im Kino Luna organisiert der Kulturverein kooperativ einen artistischen Clowns-Auftritt, denn "bei uns ist die Decke zu niedrig".

Kultur im Bankenviertel

In der reichen Shopping-Stadt werden tragende Kultursäulen, deren Bestehen obendrein noch unsicher ist, ehrenamtlich bedient. Thorsten Hail ist erster Vorsitzender des Stadtjugendrings Urach, der neben zwei Kinos in Bad Urach auch das Kino Luna in Metzingen betreibt, das bereits seit 1938 existiert. Majestätisch der Saal mit roten Samtsitzen und einer Zuschauer-Loge, die schnörkelige Schrift über der doppelten Schwenktüre zum Flur wirkt wie die Pforte zu einer versunkenen Welt. Schwerpunkt ist europäisches und deutsches Arthaus Kino. Fürs jüngere Publikum und als finanzieller Ausgleich zeigt das Luna auch immer wieder Blockbuster – aktuell den neuen James Bond-Film.

Der Vermieter des Luna ist die Volksbank, deren Gebäude in Richtung Bahnhofsplatz – hier befindet sich das ‚Metzinger Bankenviertel‘ – direkt angrenzt. Dort wird gerade ein riesiges Gebäude der Kreissparkasse gebaut. Vermutlich wird die Volksbank in Sachen Expansion nachziehen. Als 2019 der Mietvertrag abgelaufen war, hatte der damalige OB Ulrich Fiedler den Kompromiss herausgehandelt, dass das Kino bis Ende 2024 bleiben kann. 9.000 Unterschriften wurden damals für den Erhalt gesammelt. "Kino ist ein Einstieg in die Kultur", sagt Hail. Ein Umzug sei teuer, alternative Räume schwierig zu finden und "wenn a Fabrik frei wird, ist's Outlet dran". Denn Metzingen entwickle sich hauptsächlich im Outlet-Bereich und wenn es in der Innenstadt Entwicklungen gebe, haben die auch fast immer einen Bezug zum Outlet, sagt Hail. Die Outletcity und das traditionelle Metzingen sind für ihn wie zwei verschiedene Städte.

Eine Verbindung zwischen beiden Welten ist die Reutlinger Straße. Dort befindet sich seit 1980 das Modehaus Schmid, das Erdgeschoss mit Bodenfliesen aus Stein, das Untergeschoss mit türkis-grünem Teppichboden. "Am erfolgreichsten waren die 80er-Jahre", meint Inhaber Friedrich Schmid, dessen Vater schon ein Textilgeschäft betrieb. Damals gab es nur den Fabrikverkauf von Boss in der Stadt und der bot damals noch keine komplette Anzugs-Ausstattung. Schmid erinnert sich gerne: "Wir verkauften die Hemden und Krawatten zu den Boss-Hosen." Als die Outletcity durch die Holy AG Mitte der Neunzigerjahre expandierte, sei die Innenstadt außen vor geblieben. Mittlerweile haben sich auch einige Outlet-Marken in die Reutlingerstraße verlegt.

Schmid profitiert von den Outlet-Kunden. Neben seinem eigenen Modehaus führt er noch einen "Street One"-Store, in dem nur die eine Marke angeboten wird und dessen Räume von der Holy AG vermietet werden. Diese Anpassungsstrategie an die Entwicklungen rund um die Outletcity scheint erfolgreich zu sein: Das Geschäft hat überlebt. Anders als der frühere Jeansladen von Martin Munz, der weiter entfernt von den Outlet-Centern lag als das Modehaus Schmid. Nachdem er durch die Konkurrenz von immer neuen Outlet-Stores "eine Marke nach der anderen aufgeben" musste, betreibt er mittlerweile einen Second-Hand Shop. Zudem wurde nach 30 Jahren die Duldung für den Parkplatz direkt neben seinem Geschäft beendet – Parkplätze sind rar in der Outletcity.

Boss-Town und Holy-Wood

Die Outletcity selbst entwickelt sich derweil munter weiter. Neben der flächenmäßigen Erweiterung – Metzingens Outlet ist mittlerweile die Nummer 1 in Europa – und der Erweiterung gastronomischer Angebote – neuster Plan ist eine Champagnerbar –  im Moment vor allem digital. Die beiden geplanten Hotels der Marriott-Kette, die die "Verweildauer" der Outlet-KundInnen erhöhen sollten, stehen vermutlich dank Corona eher hinten an. Dafür wurden für die Outletcity ein WhatsApp-Service, die Outletcity-App und freies Wlan auf 40.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche inklusive Außenbereiche und Parkhäuser entwickelt. Die Holy AG schuf eigens dafür eine umfassende Glasfaserinfrastruktur - das sogenannte City Fiber Backbone. Vor allem internationale Gäste seien, so schreibt es "computerwoche.de", auf eine gute Wlan-Verbindung angewiesen, denn sie "kaufen gerne für Familienmitglieder und Freunde zu Hause ein und streamen die angebotenen Produkte mit ihren Smartphones, um Bilder in Echtzeit zu teilen."

Simon Drees, Leiter Omnichannel Services und Innovationen bei Outletcity Metzingen, spricht in dem Artikel darüber, dass sie "eine Push-Funktion über unsere mobile App implementieren. Damit sind Kunden in der Lage, Benachrichtigungen über Sonderangebote zu erhalten, sobald sie in der Nähe ihrer bevorzugten Geschäfte sind." Über das Wlan komme man auch zum Outletcity Club, "dem Treueprogramm und der mobilen App des Outlets", so der Artikel: "Die Mitglieder sammeln bei jedem Einkauf Punkte, während spezielle, fest installierte Mobiltelefone an jeder Kasse dazu dienen, die Einkäufe zu tracken." Shopping 2.0.

Der Hugo-Boss-Platz ist ein Herzstück der Outletcity, da dort vor zwei Jahren das Flagship Outlet von Hugo Boss öffnete. In der Aufmachung einer Geschichtstafel steht in jeweils acht verschiedenen Sprachen und sehr aussagekräftig über Hugo Boss: "Er war der erste, der die Outletcity großgemacht hat, nun ist er der Größte, der in der Outletcity seinen Platz einnimmt." Davon, dass Hugo Boss Uniformen für die Nazis herstellte, liest man dagegen nichts. Sehr einladend auch am Anfang des Platzes: "Outletcity Metzingen GmbH Videoüberwachung". Am Hugo-Boss-Platz steht derzeit das größte mobile Kettenkarussell der Welt. Palmen und Olivenbäume in Kübeln, Sofas mit Sonnenschirm und eine "Outdoor Art Galery", unter anderem – Achtung, das Unternehmen scheint reflektiert und selbstkritisch – mit konsumkritischer Kunst. Am Ende des Platzes spannt sich ein riesiges Alpenpanorama. Direkt daneben das Restaurant Almresi, wo die Kellner stilecht in Lederhosen bedienen.

Die Metzingen Marketing und Tourismus GmbH (MMT) kann als eine Art Scharnier zwischen Handel und Stadt gesehen werden. Auf der Internetseite der Stadt findet sich unter "Shopping & Tourismus", der erste Punkt im Hauptmenü, denn auch folgende Beschreibung: "Visionen sind ein perfektes Einkaufserlebnis mit schönen Attraktionen und Wohlfühlatmosphäre in der Innenstadt mit einem modernen, nachhaltigen Citymanagement zu schaffen."

Dabei will man die "Marke Metzingen" bewerben und "noch attraktiver" machen. Derweil fühlen viele BürgerInnen sich von der Stadtverwaltung nicht gut repräsentiert. Laut einer Umfrage der Lokalzeitung "Generalanzeiger", die am 21.9.2021 veröffentlicht wurde, geben nur 3 Prozent der 360 befragten MetzingerInnen bei der Frage "Wie bürgernah ist die Metzinger Verwaltung?" an, sehr zufrieden (Note 1) zu sein. Die Mehrheit, 31 Prozent, antworten "befriedigend" (Note 3) – gut jeder Fünfte stimmte mit "mangelhaft" (Note 5). Der Investor und die Stadt "bemühen sich, die Bevölkerung nicht über Gebühr zu belasten", sagt Christiane Hauber, Anwohnerin der Kanalstraße in der Nähe des Outlet-Centers. Es habe bei der Planung Bürgerbeteiligung in Form verschiedener Arbeitskreise gegeben und die Holy AG habe Leute angestellt, die den Müll um Kanalstraße und Boss-Platz beseitigen. Hauber ärgert sich vor allem über Falschparker, "die bis zum Ladentisch fahren wollen". Das Ausmaß der Parkdelikte, sagt Hauber, würde die Behörden überfordern: "Wir hätten es schon gerne, wenn das Ordnungsamt ein bisschen häufiger kommen würde."

Fritz Kemmler, Vorsitzender des Arbeitskreis Geschichte (AKS) in Metzingen, steht in der Altstadt und deutet auf das Wappen am Rathaus. Der Krautkopf ist das Wahrzeichen des früheren Marktfleckens. Auch der Weinbau hat hier Tradition seit 1281. Mittlerweile gibt es nur noch ein Brüderpaar, das vollerwerbsmäßig Wein anbaut. In den späten Sechzigerjahren sollten die Keltern abgerissen werden, was durch Initiative der BürgerInnen verhindert wurde. Mittlerweile soll die Weinbautradition Outlet-TouristInnen in die Innenstadt locken. Einen großen Investor in einer Stadt zu haben, habe auch Vorteile, sagt Kemmler. Für die Generalsanierung der imposanten "Sieben-Keltern-Schule" seien sicherlich "Gewerbeeinnahmen der Stadt nicht unwesentlich" gewesen. Das sogenannte "Kombibad", das Freibad und Hallenbad kombinieren soll und für das es bei einem Bürgerentscheid eine große Mehrheit gab, liegt derweil wegen corona-bedingtem Einbruch der Gewerbeeinnahmen erst einmal auf Eis.

Der dritte Teil: die Öschhalle

Etwas gibt es noch, das jenseits der Zweiteilung Metzingens in die Altstadt und das Outletcenter existiert: die "TuSsies", die Frauenhandballmannschaft Metzingens. Der Vereinsname wurde nach einem Spiel gegen die Schwaben Hornets Nellingen zur Marke gemacht. Auf einem Flyer wurden die "TuSsies" von den Nellingern in Röckchen dargestellt. Als sie das Spiel gewannen, zogen sie zur Feier pinke Hasenohren und Trikots an. Seitdem tragen sie den Namen des Vereins und pinke Trikots offensiv und mit Stolz. 2022 wird der Verein aller Voraussicht nach sein zehnjähriges Bestehen in der 1. Bundesliga feiern können.

Trainerin Edina Rott und ihr Mann Ferenc, Geschäftsführer des Vereins, werden von den Fans auf Instagram gelobt: "Sie kamen aus Ungarn nach Deutschland und übernahmen eigentlich notgedrungen gemeinsam einen insolventen und abstiegsgefährdeten Zweitligaverein." Die Rotts – dazu gehören auch zwei Töchter – leben stark mit dem Verein und führen ihn ein bisschen wie eine große Familie. Auch der Verein – nicht nur das Outletcenter – sei ein Grund, "dass jetzt viele wissen, was Metzingen ist", sagt Edina Rott. Seit dieser Saison ist das Outletcenter wieder einer der Sponsoren des Vereins – letzte "Corona-Saison" unterstützte es den Verein nicht.

"Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer / Das Häßliche erfreut durch Dauer", schließt das Gedicht von Robert Gernhardt über Metzingen. Vielleicht bringt jede Zeit und jede Entwicklungsstufe kapitalistischer Produktionsweise ihre eigene Hässlichkeit hervor? Tröstlich ist, dass sich zu allen Zeiten widerständige Geister in den Epizentren der Betonträume finden lassen: ob nun Robert Gernhardt oder Walter Dieterle von der Kulturkneipe Hirsch.


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