Offen für alle Religionen, kein Privatbesitz, kein Geld – aber viele Bäume
Am IRGE hat Kundoo mit ihren SeminarteilnehmerInnen freilich weder praktische Experimente durchgeführt, noch sich mit Stuttgart beschäftigt. Die Frage nach Dichte und Nachhaltigkeit stellte sie ausgehend von dem Ort, aus dem sie kommt: Auroville, 1968 gegründet als Stadt für 50 000 Einwohner, zehn Kilometer nördlich von Pondicherry. Zwei Millionen Bäume haben die BewohnerInnen gepflanzt. Auroville zieht viele Menschen an, aus allen Teilen der Welt. Aber eine richtige Stadt ist es noch immer nicht.
Auroville? Manche, die davon gehört haben, denken an eine Sekte. Im Wortsinn ist Auroville eher das Gegenteil davon: keine Abspaltung von einer bestehenden Glaubensgemeinschaft, sondern nach dem Willen der Gründerin Mira Alfassa ein Ort, der der gesamten Menschheit gehören und für alle Religionen offen sein soll. Was den Gedanken an eine Sekte aufkommen lässt, ist die Verehrung, die Alfassa, genannt "Die Mutter", entgegengebracht wird. Und einige Besonderheiten: Es gibt keinen Privatbesitz, schon gar nicht an Grund und Boden. Und jedenfalls im Alltag kein Geld. Auroville soll ein Labor für die Zukunft der Menschheit sein.
Um zu verstehen, was es mit der Stadt auf sich hat, muss man tief in die Geschichte eintauchen. Auroville ist benannt nach Sri Aurobindo. 1872 in Kalkutta geboren, wurde Aurobindo Ghose von seinem Vater im Alter von sieben Jahren nach England geschickt, von wo er als Zwanzigjähriger mit Diplom aus Cambridge zurückkehrte. Erst danach lernte er die bengalische Sprache seiner Heimat und die alt-indischen Überlieferungen kennen. Nach 13 Jahren Staatsdienst im Fürstentum Baroda zog er wieder nach Kalkutta und wurde zu einem der führenden Köpfe der indischen Unabhängigkeitsbewegung.
Um dem Gefängnis zu entgehen, wich er nach Pondicherry aus, eine französische Enklave in Südindien. Hier lernte ihn Mira Alfassa 1914 kennen. 1878 als Tochter einer jüdischen Familie aus dem damals zum osmanischen Reich gehörenden Ägypten in Frankreich geboren, blieb sie von 1920 an dauerhaft an seiner Seite. Aurobindo gründete einen Ashram – ein Meditationszentrum –, zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und überließ Alfassa die Organisation. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zur indischen Kultur und seiner Lehre, dem integralen Yoga.
Grundlegend ist bei Aurobindo der Gedanke, die Menschheit habe sich zu sehr auf die äußere, technische Entwicklung konzentriert und vernachlässige die innere Entwicklung. "Meine letzte Vision beinhaltet eine Stufe in der Evolution, welche den Menschen zu einem höheren und umfassenderen Bewusstsein erhebt und so die Lösung der Probleme einleitet, welche den Menschen bedrängen und gequält haben, seitdem er zu denken begann", erklärte er 1947 in einer Radio-Ansprache am Vorabend der indischen Unabhängigkeit.
Der Architekt als Prophet
15 Jahre nach Aurobindos Tod (1950) wollte Alfassa einen Schritt weiter gehen. Sie gründete Auroville, als Experimentierfeld für die Welt von morgen. Und was braucht man, um eine Stadt zu bauen? Sie holte Roger Anger, einen der profiliertesten Architekten aus Frankreich, der bereits zahlreiche Wohnsiedlungen gebaut hatte, darunter in Grenoble die höchsten Wohnhochhäuser Europas.
Als Anupama Kundoo Ende der achtziger Jahre nach Auroville kam, wusste sie nichts von diesem Projekt. Sie hatte ihr Architekturstudium in Bombay abgeschlossen und wollte etwas von der Welt sehen. Sie erkannte aber, dass Anger weiter dachte als andere und gründete in Auroville ihr eigenes Büro. "1965 wies er bereits darauf hin, dass das Automobil die Städte zerstört", erklärt sie. Stuttgart wurde damals umgebaut zur autogerechten Stadt – wie andere Städte auch. In Angers Plan für Auroville gibt es keine Autos: allenfalls kleine, elektrische Fahrzeuge, nicht schneller als 15 Kilometer pro Stunde, für den Transport von Lasten bis 200 Kilogramm.
Anger erkannte, dass eine Stadt ohne Autos dicht bebaut sein muss. Auroville ist kreisrund, hat einen Durchmesser von 2,5 Kilometer, umgeben von einem Grüngürtel, und lässt sich bequem zu Fuß durchqueren. Nach dem Willen der "Mutter" ist die Stadt in vier Sektoren geteilt: einen für Wohnen, einen für Industrie, eine internationale Zone mit Länderpavillons und einen für die Kultur. In der Mitte befindet sich ein ovaler Park und in dessen Zentrum das Matrimandir, eine abgeflachte Kugel von 36 Metern Durchmesser, bedeckt mit ungefähr zwei Meter großen satellitenschüsselartigen Scheiben, die mit goldenen Mosaiksteinchen besetzt sind.
Das Matrimandir, 2008 fertiggestellt, ist eine symbolische Architektur: ein Ort der Stille und Meditation. Computergesteuerte Spiegel lenken das Sonnenlicht auf eine 70 Zentimeter große Glaskugel im Zentrum. Es ist das sichtbare Wahrzeichen der Stadt und zieht jährlich rund 700.000 Touristen an, aus Indien und aller Welt. Dabei hat die Stadt nach einer aktuellen Statistik gerade mal 3042 Einwohner: 45 Prozent aus Indien, dann Franzosen, Deutsche, Italiener, Holländer, Amerikaner – Menschen aus insgesamt 58 Nationen. Dazu kommen noch Hausangestellte, die sich wie zahlreiche Handwerker und kleine Händler außerhalb des Grüngürtels niedergelassen haben.
1988 wurde Auroville in eine Stiftung überführt, 2001 verabschiedeten die Bürgerversammlung und der Verwaltungsrat einen Perspektivplan für 2025. Und im Zuge der 50-Jahr-Feiern 2018 trat eine Gruppe von 14 Personen, die inzwischen auf 85 angewachsen ist, an Anupama Kundoo heran und bat sie, Angers Plan weiterzuentwickeln.
Gemeinschaft statt Isolation
Zentrale Elemente sind langgestreckte, geschwungene Baukörper, die sich vom Park im Zentrum bis an den Rand des Grüngürtels erstrecken. Anger nannte sie "lignes de force", Kraftlinien. Im Industriesektor sind sie innen hoch, dort befinden sich die Büros, und nach außen hin zu den Fabriken fallen sie immer mehr ab. Auf der Wohn-Seite verhält es sich genau umgekehrt: Innen sind sie nur zwei bis vier Stockwerke hoch, um nach außen auf bis zu 16 Etagen anzuwachsen.
Nur durch hohe Gebäude, so Angers Überlegung in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Moderne, lassen sich bei hoher Bevölkerungsdichte Grünflächen erhalten. Aber in den Punkthochhäusern moderner Trabantenstädte leben die Menschen isoliert. Deshalb ist in den lignes de force - die neuen Auftraggeber sprechen von "lines of goodwill" – alles durch Längswege im Inneren miteinander verbunden. 25 Prozent der Flächen sind Gemeinschaftsräume.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!