Kaum eine Landschaft des deutschen Südwestens hat sich so lange eine ähnliche Balance zwischen Natur, Arbeit und Kultur bewahrt wie der ländliche Raum zwischen Donau, Allgäu und Bodensee. Doch längst trügt die Idylle. Nun sickern auch hier, wo Heimat das schönste Wort für Zurückgebliebenheit schien (Martin Walser), in das organisch Gewachsene, den touristisch verklärten barocken Schönwetterhimmel, zunehmend die Vorboten der Modernisierung: Straßenbaustellen im Niemandsland, zerfallene Ställe, ausrangierte Traktoren vor verschlossenen Stadeln, halb abgerissene Bauernhöfe, Plastikplanen als Silageverpackung, überall Knochensteinpflasterungen, handgemalte Hauswandverzierungen, Baustahlgestrüpp am Feldrand, Dorfrandgestaltung im Baumarktdesign – hilflose Gesten von Verschönerungswut.
In den Fotografien von Claudio Hils zeigt sich diese Landschaft von ihrer anderen Seite: In Modernisierungswut und dem Zerfall scheinbar nutzlos gewordener Eigenart. Der globale Fortschritt kennt keine Rücksicht. Er entlarvt das heitere Erscheinungsbild unserer Gegend als schönen Schein. Die Kräfte, unter denen sich die gegenwärtige Veränderung vollzieht, rühren an den Schlaf der ländlichen Welt. Ihr Ziel ist: ökonomischer Nutzen, ein Prinzip, das längst wie eine zweite Natur alles Lebendige durchdringt. Wer ihm verpflichtet ist, kann sich um die Befindlichkeit Betroffener nicht kümmern.
Einwände gegen allzu zügellose Modernisierung verhallen im Jagdlärm der Wachstumsstrategien. Wo alle Welt Anschluss halten muss an die Beschleunigung des Lebens, wird der ländliche Raum zum Durchzugsgebiet von Effizienzstürmen, denen kaum ein Landwirt standhalten kann. An die Stelle von historisch gewachsenen, meist kleinteiligen Lebens- und Arbeitsformen tritt die Maßlosigkeit der Moderne. Überdimensionierte Hallen und Lager, Gerätschaften und Traktoren gleichen mehr und mehr dem gigantischen Technologiepark rohstofffördernder Industrien. Statt unverwechselbarer Eigenart herrscht bald uniforme Mächtigkeit.
Der ursprüngliche Zusammenhang von Arbeit und Leben, der die dörfliche Welt über Jahrhunderte auszeichnete, scheint unrevidierbar zerschlagen. Was bleibt, ist das pure Wohnen in einer Umgebung, die an jeder Ecke nur noch erinnert ans Tätigsein. In ihrer Beschränkung auf Übernachtung und Freizeit verwandeln sich die Häuser entlang der Dorfstraßen in abweisende Zwingburgen einer Privatheit, die das Landleben so nicht kannte. Neben aller Mühsal war bäuerliche Arbeit vor allem ein öffentliches Geschehen. Jeder Handgriff im Hof und auf dem Feld vollzog sich nicht nur vor aller Augen, sondern stiftete dadurch gerade jenen Lebenszusammenhang, der dieses mühevolle Dasein erst lebbar machte.
Die Fotografien von Claudio Hils lassen etwas ahnen von der Unaufhaltsamkeit, mit der die Wucht der Globalisierung auf den ländlichen Raum zukommt und das Vertraute so grundlegend umkrempelt, dass wir uns fühlen wie ausgesetzt. Das Verschwinden der kleinbäuerlichen Strukturen, und damit verbunden der Sinnentzug des Landlebens zugunsten agrarindustrieller Produktion, die Verwandlung landwirtschaftlicher Arbeitsorte zur gesichtslosen Architektur bloßer Wohnsiedlungen hinterlassen eine unbelebte Zwischenwelt, in der man nicht mehr heimisch bleiben und erst recht nicht werden kann.
Fotografie als Tatortbeschreibung: Überall sind die Spuren der sprichwörtlichen Demontage ehemals heiler Lebenswelt zu sehen, notdürftig haltbar gemacht für eine ungewiss scheinende Zukunft. Eine Lebenswelt ohne Zuversicht. Der auswählende Blick, fokussiert auf Brüche und Reparaturen, fördert jedoch nirgendwo Erklärungen zutage, sondern nur neue Fragen, in denen noch etwas nachzuklingen scheint vom Schmerz über den Verlust der Eigenart.
Die Oberschwaben-Bilder von Claudio Hils sind bis zum 13. März 2014 im Kunstforum der Bausparkasse Schwäbisch Hall zu sehen. Versammelt sind sie auch in dem Bildband "abseits", erschienen im Tübinger Klöpfer & Meyer-Verlag.
Claudio Hils, 1962 in Mengen geboren, ist freier Autorenfotograf und Kommunikationsdesigner, seit 2008 Professor für Fotografie an der Fachhochschule Vorarlberg und Kurator zahlreicher Ausstellungen.
Peter Renz, 1946 in Weingarten geboren, lebt in Waldburg (Kreis Ravensburg) schreibt Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Er ist Leiter des Studiengangs Literarisches Schreiben an der IB-Hochschule Berlin/Stuttgart.
4 Kommentare verfügbar
Roger Sonnewald
am 13.02.2014