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Mittwochs

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Im Keller der Villa Reitzenstein finden sich Utensilien, die eindeutig früheren Hausherren zuzuordnen sind: die Robe eines Marinerichters, ein Teesieb. Und der neue Landesherr meint nun, er hätte den Bürger erfunden. Die Mittwochsglosse.

Hier also hatten sie regiert und residiert, die Fürsten. Schritt für Schritt näherte sich der Bürger dem prunkvollen Gebäude, mit klopfendem Herzen. Was nicht nur an dem steilen Aufstieg lag, bei dem er nicht die Serpentinen gewählt hatte, sondern die Direttissima. Minutenlang schaute er jetzt auf den Regentensitz, der in gebotener Höhe und Distanz über der Hauptstadt und ihrem Volk lag. Und immer wieder schüttelte er sein weißes Haupt. Er mochte es kaum glauben, dass er jetzt hier war. Hier, im Zentrum der Macht. 

Neugierig, fast erschrocken blickte sich der Bürger um, als er die große Eingangshalle betrat. Der Marmor fühlte sich mächtig kalt an, die Kristallleuchter flößten Ehrfurcht ein, und auch der strenge Stuck deckte sich mit seinen kühnsten Erwartungen. Die goldenen Klinken der großen Türen knackten vornehm, als er sie vorsichtig öffnete. Immer neue glänzende Säle taten sich vor ihm auf, er verlor sich fast in ihnen. An einem ausladenden Tisch nahm er zur Probe Platz. Klein wirkte er, fast unbeholfen, die schwulstigen Figuren auf den Gobelins schienen verdutzt, ja, missmutig auf den Bürger herunterzuschauen.

Hier also hatten sie entschieden und beschieden, die hochlöblichen Herren dieser Residenz, dachte er. Und hier hatten sie gefeiert, was der Weinkeller hergab. Ob ihre First Ladies wohl immer dabei waren? Und vielleicht hatten sie ja auch gelästert, über das dumme Volk, das ihnen so manche Legende glaubte, oder über die Kanaillen der Journaille, die ihre Griffel mitunter scharf gespitzt hatten und doch mit am Tische der Macht sitzen wollten.

Ein Porträt des neuen Landesherrn in Rapsöl

Als der Bürger alle herrschaftlichen Räume aufgesucht, vom schmucken Balkon fiktiven Besuchern zugewinkt und im Park einige Proberunden gedreht hatte, stieg er in den Keller des Palastes hinunter. Dort stand, auf einem dunklen Filzboden, eine große metallene Maschine, die Papier zu fressen schien. Sie fühlte sich noch warm an. In einer Ecke lag Gerümpel, geheimnisvoll. Er begann zu stöbern. Plötzlich hielt er eine vermoderte Richterrobe in der Hand, als er sie wendete, spürte er am Kragen ein gehaktes Kreuz. Angewidert legte er sie weg. Der prächtige Sonnenschirm, der bunt aus dem Haufen ragte, sah da einladender aus. Wie das Relikt einer traumhaften Schiffsreise. Oder eines Segeltörns.

Als er ein verstaubtes Philosophiebuch entdeckte, begann er interessiert darin zu blättern. "Heidegger, ja", sagte er mit leuchtenden Augen. Die kleine Haarfärbetube mit der Aufschrift "Henna", die neben dem Buch lag, beachtete er nicht. Dafür fiel ihm die angebissene Pizza auf, die einer der Landesherren irgendwann einmal hektisch weggeworfen haben musste. Und eine lustige Brille aus Teesieben. Dann wäre er fast auf grüne Metallspielzeuge mit Wasserröhrchen, Minispraydosen und kleine, schwarz vermummte Figuren getreten. Hatte da jemand den Einsatz-Befehlshaber gespielt?

Als der Bürger in die Empfangshalle zurückkehrte, sah er die stattliche Bildergalerie mit den Porträts der Fürsten, die das Land in den vergangenen Jahrzehnten regiert hatten. Zwei fehlten, fiel ihm auf. Ach ja, der eine war von einer strengen Regentin überraschend in eine andere feudale Machtposition beordert worden, im europäischen Ausland. Und beim letzten Landesherrn hätte der Maler gar keine Zeit gehabt, ihn in Öl zu verewigen, dazu war seine Regierungszeit einfach zu kurz. Da schoss es dem Bürger durch den Kopf: "Hier wirst du wohl auch einmal hängen." Oh Schreck, dachte er. "Aber dann wenigstens in Rapsöl."

Gerlinde zieht durchs Donautal

Als er in einem der Säle den alten Fürstensender anschaltete, lief ein Film über Carl Benz, der gerade das Automobil erfand und schwer gegen Widerstände zu kämpfen hatte, bis er das mobile Zeitalter gründen konnte. Zum Glück stand ihm seine Frau Berta zur Seite und kutschierte die Droschke eigenhändig von Mannheim nach Pforzheim. Da überfiel den Bürger ein Geistesblitz: "Ich gründe auch etwas – den Bürger!" Er sinnierte weiter: "Und die Bürgerbeteiligung!" Sicher, auch da würde es Widerstände geben, vor allem aus der abgedankten Fürstenpartei. Doch er malte es sich schon aus: wie Gerlinde, seine tapfere Frau, sich die Wanderstiefel schnüren, über die Dörfer des Donautals ziehen und alle Bürger für sich und die große Idee gewinnen würde.

Zufrieden und voller Tatendrang bürstete der Bürger-Gründer sein weißes Haupt. Dann stieg Winfried Kretschmann von seiner Gründervilla hinab in den Stuttgarter Landtag und gab seine erste Regierungserklärung ab.


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