"Der größte Wunsch ist es, dass meine Eltern ihren Lebensabend im Kreise der Familie verbringen können. In Würde und Sicherheit," sagt Emrach G. Bis vor Kurzem schien diesem Wunsch auch nichts entgegenzustehen. Doch nun sind seine Eltern, die 64-jährige Mire G. und der 62-jährige Sali K., nicht mehr da. Die beiden leben nun getrennt vom Rest der Familie. Sechs Kinder, 17 Enkel, ein Urenkel und die Mutter von Mire G. wohnen in einem kleinen Städtchen im Landkreis Biberach. Hier waren auch Mire G. und Sali K. fast 29 Jahre lang zu Hause. Bis zum 12. Oktober 2020.
An diesem Tag kam frühmorgens eine Ärztin zum Ehepaar. Bei einem 62-jährigen Diabetiker, der drei Herzoperationen hinter sich hat, dem drei Stents gelegt wurden und der zur Stabilisierung der Psyche auf Medikamente angewiesen ist, nichts Ungewöhnliches. Doch in diesem Fall kam die Ärztin nicht um zu helfen. Sie kam um seine Flugfähigkeit zu bescheinigen, in Begleitung von vier Polizisten. An diesem Tag änderte sich das Leben der Familie.
"Es war wie eine Herzattacke", sagt Emrach G. Eigentlich sollten die Enkelkinder zum Mittagessen zu den Großeltern kommen. Doch daraus wurde nichts. Die Großeltern wurden morgens von der Polizei abgeholt und zum Baden-Airpark gebracht. Viel Flugverkehr gibt es nicht vom kleinen Regionalflughafen zwischen Baden-Baden und Karlsruhe. Einige Flüge finden aber trotz Corona statt. Sammelabschiebeflüge in die Balkanländer Serbien, Nordmazedonien, Albanien und Kosovo. Am 12. Oktober brachte das Flugzeug Mire G. und Sali K., 16 andere Betroffene und einige PolizistInnen als Begleitung in den Kosovo, einen Staat, den es noch gar nicht gab, als das Ehepaar nach Deutschland geflohen ist und in den es keinerlei Verbindung hat.
Abschiebung trotz Reisewarnung
Das Auswärtige Amt warnt zum Zeitpunkt der Abschiebung vor Reisen in den Kosovo. Verbunden mit dem Ratschlag: "Führen Sie einen ausreichenden Vorrat wichtiger Medikamente mit sich, der auch noch einige Zeit über das geplante Rückreisedatum hinaus reicht." Wichtige Medikamente gibt es im Leben von Sali K. zuhauf. Sein Flug war aber keine von ihm lange vorbereitete Reise. Und weil sich die Behörden um sein Leben weit weniger kümmern als um das Leben eines deutschen Urlaubers oder einer deutschen Geschäftsfrau, ist Sali K. nun ohne Medikamente im Kosovo. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ehepaar ohne Pässe abgeschoben wurde.
Zur Frage, warum es möglich war, die zwei trotzdem abzuschieben, erklärt das Regierungspräsidium Karlsruhe, die oberste Abschiebebehörde in Baden-Württemberg: "Für die Betreffenden wurden Rückübernahmeersuchen an die kosovarische Regierung gestellt. Diese wurden positiv beantwortet, sodass die Abschiebung auch ohne das Vorliegen eines Passes möglich war." Ein übliches Vorgehen. Die Konsequenzen, das zeigt dieser Fall, sind für die Betroffenen fatal. "Sie besitzen nichts", erklärt Emrach G., "was ihre Identität bestätigt. Sie haben keine Möglichkeit, sich bei den kosovarisches Behörden anzumelden." So ist es für die Abgeschobenen unmöglich, im Kosovo die schwer zu erhaltene und sehr geringe Sozialhilfe zu beantragen. Ganz allgemein schreibt sogar das Bundesamt für Migration und Flüchtline (BAMF), das geduldete Personen aus dem Balkan von einer "Rückkehr" überzeugen will: "Die Voraussetzungen um Sozialhilfe zu erhalten sind sehr streng, daher werden nur Extremfälle unterstützt."
Die schlimmste Folge der Passlosigkeit für Mire G. und Sali K. ist, dass die beiden nicht mehr zu einem Arzt gehen können. In Deutschland hatte Sali K. alle zwei Wochen einen Termin im Krankenhaus. Auch Mire G. ist krank, sie hat chronische Bronchitis. Mit ihrem Alter und ihren Krankheiten gehören beide zur Coronarisikogruppe. Und der Kosovo ist ein Corona-Hotspot. Parolen wie "stay at home" helfen den beiden auch nicht weiter, denn sie haben kein Zuhause mehr. Ihnen bleibt nichts anderes übrig als gegen Corona-Auflagen zu verstoßen und wildfremde Menschen um eine Unterschlupfmöglichkeit zu bitten. Einer, der sie zeitweise in seine Einzimmerwohnung, die er mit seiner Frau bewohnt, aufgenommen hat, war ein Taxifahrer, der sich einst selber gezwungen sah, "freiwillig" auszureisen. Eine Perspektive ist das nicht.
Die Enkelkinder stellen Fragen
Die Familie im Kreis Biberach macht sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Eltern und Großeltern. "Es existiert ein unglaubliches Angstgefühl in der Familie", erzählt Bernd G., ein Freund der Familie. "Jetzt muss man sich vorstellen, wir in Deutschland suchen händeringend nach Pflegekräften. Im Kosovo gibt es ein Programm, das junge Pflegekräfte nach Deutschland bringt, um unsere alten Leute zu pflegen, weil wir das selber nicht mehr auf die Reihe kriegen. Und dann schieben wir hier die alten Leute, die von ihren Kindern versorgt werden, in dieses völlig unsichere Land ab."
14 Kommentare verfügbar
Gottfried Ohnmacht-Neugebauer
am 30.11.2020Wie kann man ältere und kranke Menschen abschieben, deren Familie hier lebt?
Wie kann man Leute vorsätzlich in einen Corona-Hotspot abschieben?
Diese "Advents-Geschichte" ist so krass,…