Gert Weißkirchen ist ein in Ehren ergrauter Genosse. Anfang der Siebziger war er Juso-Chef im Land, zwischen 1976 und 2009 saß der Professor für Sozialpädagogik im Deutschen Bundestag, immer am friedensbewegten linken Flügel. Ende April 2016 in Böblingen, auf der Basiskonferenz mit 600 Mitgliedern, kämpft er für einen Neuanfang seiner Partei. Der 72-Jährige zitiert Willy Brandt und Erhard Eppler, schlägt vor, "neu zu lernen, hart in der Sache zu diskutieren", damit der viel beschworene Aufbruch ein Fundament bekomme.
In dem 15-seitigen Newsletter, mit dem SPD-Chef Nils Schmid seine Genossen informiert, erhält Weißkirchen einen Spiegelstrich – neben 180 anderen Ideen, die kommentarlos aufgelistet sind. Darüber steht: "Wie wollen wir leben im Jahr 2030?", in der Zeile darunter: "SPD frecher, bunter, frischer, weiblicher, innovativer". Das ist nach dem 13. März, der krachenden Niederlage, nur ein Akt in dem Trauerspiel, das die Partei bietet. Ein weiterer ist der Umgang damit.
Neun Wochen sind seit der Wahl vergangenen, und niemand nimmt das Heft in die Hand. Überall Lähmung, Bedenken, strategische Sandkastenspiele, keine Taten, die folgen. Es wird geclustert und gewichtet, per Telefon versammelt und getagt, an Wände gepinnte Vorschläge ersetzen inhaltliche Debatten. Und Nils Schmid, der nicht nur als Pendant zu Winfried Kretschmann gescheitert ist, sondern auch als Führungsfigur in einem Landesverband, der einmal programmatischer Thinktank war? Den promovierten Juristen lässt sein so oft gerühmter Verstand im Stich. Der 42-Jährige schwadroniert sich aus der Verantwortung, während immer mehr Mitglieder auf die erlösende Nachricht von seinem Rückzug warten.
Schmid schwadroniert, während auf seinen Rückzug gewartet wird
"Wir sind mitten im Fortgang der inhaltlichen und strukturellen Neuausrichtung", schreibt er am vergangenen Freitag nach der Landesvorstandssitzung in seinem neuesten Newsletter an die Mitglieder. Wie chaotisch die verlief und dass am Ende nicht einmal darüber Einigkeit bestand, was eigentlich beschlossen wurde, bleibt unerwähnt. Und der Satz "Personalfragen, die weiter in die Zukunft reichen, stehen nach wie vor am Schluss", ist von der Realität schon überholt: Seine Generalsekretärin Katja Mast hat versprochen, bei den vorgezogenen Neuwahlen der gesamten Führung im Herbst nicht mehr anzutreten. Schmid hingegen hält sich bedeckt und weiterhin alle Türen offen. Mehrere Kreisverbände haben an ihn appelliert, den Weg frei zu machen, im Netz hagelt es Kritik ohne Ende. "Geht, Geht, geht", schreibt einer, "und nehmt Gabriel gleich mit."
Nun sind weder Schmid noch Gabriel und/oder das sonstige Führungspersonal in Land und Bund allein für den Verfall verantwortlich. In ganz Europa kämpft die Sozialdemokratie gegen die Folgen des Neoliberalismus, der Entstaatlichung, der finanziell gefesselten öffentlichen Hände, gegen rechten Populismus, Entsolidarisierung und gegen die anschwellenden Bocksgesänge von der Ohnmacht der Politik gegenüber dem Kapital. Überall sind die Genossen seit den Neunzigerjahren aber Opfer und Täter zugleich, seit Tony Blair und Gerhard Schröder mit ihrem neuen dritten Weg in die Mitte drängten. Jetzt wird repariert, weil die Riester-Rente viel zu viele in die Altersarmut führt, weil Arbeitgeber die von Rot-Grün eröffneten Möglichkeiten von Zeit- und Leiharbeit schamlos ausnutzen, weil Hartz IV Hunderttausende in Existenznöte und -ängste geführt hat und/oder zur AfD.
Erneuert wird mit einer "Flipchart-Armada"
In Baden-Württemberg hat sich am 13. März die vielschichtige Hilflosigkeit zu einem Wahldesaster gebündelt, das es so noch nicht gab in der Geschichte der Bundesrepublik: Eine regierende Partei wird auf zwölf Prozent halbiert. Schmids Mantra – "Es gibt nicht den einen Grund für das schlechte Abschneiden" – ist so richtig wie banal. Beispiel Flüchtlinge. Schon kurz nach der Wahl ermittelte Infratest dimap, dass dieses Thema nicht entscheidend war. Dennoch wird diese Behauptung fortwährend wiederholt.
15 Kommentare verfügbar
Klaar Kiming
am 24.05.2016Wo sollen denn also die Leute herkommen, die Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität neu und klar definieren können und vor allem wollen?
Wer sich ein…