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Sünde, Verführung

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Die Volksabstimmung wird zur Vertrauensfrage – zwischen Bürgerbewegung und Regierung. Sagt Dieter Spöri (SPD), der frühere Vize-Ministerpräsident. Nur eine "große Debatte" über S 21 und seine Alternativen könne Grüne und SPD vor einem Debakel bewahren. Wenn beide Parteien auf das Aussitzen setzen, wie er befürchtet, sei jede Wahl in den kommenden Jahren "haushoch verloren".

Winfried Kretschmann ist mit einem klaren Versprechen Ministerpräsident in Baden-Württemberg geworden: Kampf gegen S 21. Daran messen ihn die Demonstranten jetzt.

Gewiss, es ist noch nicht sicher, ob es zur Volksabstimmung über die finanzielle Beteiligung des Landes an Stuttgart 21 kommt. Das liegt an dem sehr verschlungenen Weg, den die Regierung eingeschlagen hat: Sie bringt ein Kündigungsgesetz im Landtag ein, um es dort mithilfe der SPD-Fraktion absichtlich scheitern zu lassen, um dann die Bevölkerung zur Abstimmung aufzurufen. Im Falle einer Klage beim Staatsgerichtshof ist dieses Verfahren mit einigen Prozessrisiken behaftet. Zum anderen ist es den Bürgern äußerst schwer zu vermitteln.

Aber selbst wenn die Risiken gemeistert sind, müssten die S-21-Gegner nicht nur eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielen, sondern auch das extrem hohe Quorum von mindestens 30 Prozent der Stimmberechtigten erfüllen. Dies setzt einen geradezu heroischen Mobilisierungserfolg der Bürgerbewegung voraus. Und in der parlamentarischen Auseinandersetzung wird das Thema für Grün-Rot aufgrund der Koalitionskonflikte bei S 21 wohl zum härtesten Stresstest.

Dennoch ist dieser Weg die einzig noch verbliebene Option, zu S 21 überhaupt eine Volksabstimmung durchzusetzen. Und genau deshalb plädiere ich entschieden dafür, die Chancen einer Volksabstimmung im Falle ihrer rechtlichen Durchsetzung so ernsthaft zu nutzen, dass daraus ein weiteres Stück lebendiger Bürgerbeteiligung in unserer Demokratie wird. Seit einem Jahr verfolgt nicht nur ganz Deutschland intensiv diesen spannenden Prozess, auch die internationale politische Debatte über die Zukunft der repräsentativen Demokratie wird mit Blick auf die Erfahrungen und den Fortgang der Bürgerbeteiligung bei S 21 geführt.

Das Prozessrisiko Staatsgerichtshof

Als ich vor einem Jahr, angesichts der bedrohlichen Eskalation um dieses Großprojekt, zusammen mit Erhard Eppler, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Harald Schäfer und anderen den Vorschlag eines Volksentscheids zu S 21 machte, habe ich bewusst eine freiwillig vereinbarte Volksbefragung empfohlen. Ihr Ergebnis sollte dann von allen Beteiligten respektiert und umgesetzt werden. Große Infrastrukturprojekte sind eigentlich nur noch konsensual zu optimieren. Erfolgreiche Beispiele dazu gibt es auf kommunaler Ebene. Das Prozessrisiko Staatsgerichtshof wäre so vermeidbar gewesen.

Genau diesen methodischen Ansatz hat man bei der freiwilligen Vereinbarung eines Schlichtungsverfahrens zu S 21 durch alle Beteiligten angewandt. Diese Schlichtung war als rechtliches Institut und mit ihren konkreten Abläufen weder in der Landesverfassung noch in anderen Gesetzen geregelt. Es macht aber jetzt keinen Sinn mehr, dieser nicht ausgeloteten Alternative nachzutrauern. Vielmehr müssen wir uns jetzt auf den von der Regierung verfolgten Ansatz der Volksabstimmung konzentrieren und daraus das Beste machen.

Wenn ich heute aus meiner Berliner Distanz die aktuelle landespolitische Entwicklung betrachte, kommen mir einige Zweifel, ob allen in der neuen Koalition voll bewusst ist, wie viel politische Glaubwürdigkeit mit dieser Volksabstimmung in Frage gestellt ist und zerbrechen kann. Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass es manchen Akteuren nur noch primär darum geht, durch die Volksabstimmung ein inzwischen lästiges Konfliktthema endlich abzuhaken. In der SPD-Führung lehnt man sich – von skurrilen Ausnahmen einmal abgesehen – schon in froher Erwartung einer Niederlage der S-21-Gegner entspannt zurück. Überraschen muss aber, dass bei den Grünen sich aktuell nur noch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sachkundig und durchaus medienwirksam voll ins Zeug legt.

Die Sehnsucht, die Großbaustelle möge aus dem Blickfeld verschwinden

Demgegenüber wurde im Landeskabinett die Dynamik des Verkehrsministers Winfried Hermann durch koalitionsinternen Druck hör- und sichtbar abgebremst. Ich will ja niemandem zu nahe treten: Aber überall spürt man zwischen den Zeilen und teilweise ganz offen die menschlich durchaus verständliche Sehnsucht durchschimmern, dass die Großbaustelle S 21 nicht mehr allzu lange die anderen landespolitischen Felder verdeckt. Dort verspricht man sich ja weit mehr politischen Glanz.

Die Koalition wäre gut beraten, diesem sich verstärkenden Eindruck der Lustlosigkeit und des Aussitzens gerade jetzt entschieden entgegenzutreten und die Mobilisierungschancen einer Volksabstimmung entschlossen zu nutzen. Der Vorlauf zum anvisierten Termin, den 27. November, kann zu einem spannenden politischen Großversuch werden, in allen Regionen mit den Bürgerinnen und Bürgern über die Vor- und Nachteile der Alternativen zu diskutieren. Dabei sollte dieses gesellschaftliche Forum auch für eine ernsthafte Debatte über den Kompromissvorschlag Heiner Geißlers, "Frieden für Stuttgart", genutzt werden. Gerade mit Blick auf den neuen Rechtsstreit über die weitere Nutzung der Gleisflächen durch Privatbahnen könnte die Kombilösung von Heiner Geißler und der Schweizer Firma SMA noch interessanter werden.

Auch die SPD-Führung um Nils Schmid (links auf dem Plakat), den Vizeministerpräsidenten, steht nach Dieter Spöris Meinung vor der Vertrauensfrage.

Man sollte sich im Vorfeld der Volksabstimmung auch noch einmal bewusst machen, dass es ohne die politisch breit angelegte Bürgerbewegung zu S 21 überhaupt keinen Regierungswechsel und damit einen Politikwechsel in Baden-Württemberg gegeben hätte. Dass es heute kein einziges Kabinettsmitglied in einer grün-roten Landesregierung und keinen kultigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geben würde. Denn die genauso sensationelle wie hauchdünne Ablösung von Schwarz-Gelb in Baden-Württemberg ist nicht hinreichend mit den Fernwirkungen des Dramas von Fukushima zu erklären.

Vertrauensfrage zwischen Grün-Rot und der Bürgerbewegung

Ohne den Wechsel oder die Wahlenthaltung vieler konservativer und bürgerlicher Gegner von S 21 wäre Stefan Mappus heute noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Ein nachlässiger oder selbstherrlicher Umgang mit der Bürgerbewegung würde mit beiden Koalitionsparteien schwer heimgehen. Die grün-rote Koalition darf daher nicht den Eindruck verstärken, sie wolle das Thema S 21 bis zur Volksabstimmung nur noch routiniert aussitzen. Die Volksabstimmung stellt zwischen Grün-Rot und Bürgerbewegung massiv die Vertrauensfrage.

Für die Grünen kann im Falle der Niederlage der S-21-Gegner nur eine überzeugende und große Kraftanstrengung vor der Volksabstimmung einen katastrophalen Vertrauenseinbruch verhindern. Ohne diese Kraftanstrengung wäre die Bürgerbewegung geradezu chancenlos. Aber auch für die SPD ist eine engagierte Gegenüberstellung der Positionen und eine offene Debatte im ganzen Land von geradezu existenzieller Bedeutung. Gerade die SPD-Führung im Land hat doch das Instrument der Volksabstimmung im Wahlkampf am intensivsten thematisiert und damit die Erwartung einer fairen und offenen Debatte geweckt. Sie hat es dadurch S-21-Gegnern immer noch möglich gemacht, sozialdemokratisch zu wählen.

Insbesondere der Umgang mit den von Klaus Riedel angeführten S-21-Gegnern an der SPD-Parteibasis wird ganz entscheidend sein. Werden hier weiter Fehler gemacht, schrumpfen das sozialdemokratische Wählerpotenzial und die Mitgliederbasis im Land weiter. Das Lager sozialdemokratischer S-21-Gegner könnte weit größer sein, als dies auf straff organisierten Landesparteitagen sichtbar wird. Die grün-rote Koalition muss also gerade jetzt ihrem eigenen Anspruch einer "Bürgerregierung" gerecht werden. Einer Bürgerregierung, die die direkte politische Teilhabe der Menschen auch in einer repräsentativen Demokratie ernst nimmt. Dies gelingt nur überzeugend, wenn Grün-Rot den Vorlauf zu einer Volksabstimmung im ganzen Land zu einer großen Debatte über die Zukunft von S 21 und seinen Alternativen macht.

Auch das Regieren kann ganz schön bitter sein

Opposition ist ein hartes Brot, aber Regieren kann auch ganz schön bitter sein: Für Grün-Rot würde im Falle eines sensationellen Erfolgs der S-21-Gegner bei der Volksabstimmung erst so richtig der Ernst des Lebens beginnen. Denn dann würde die Landesregierung durch die Baden-Württemberger verpflichtet, "Kündigungsrechte bei den vertraglichen Vereinbarungen mit finanziellen Verpflichtungen des Landes Baden-Württemberg für das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 auszuüben". So steht das im Gesetzentwurf der Landesregierung.

Menschen, die politisch ein bisschen antizipieren können, mag die daraus entstehende Auseinandersetzung mit den Bataillonen der Deutschen Bahn AG und den anderen Projektträgern sowie mit der ökonomischen Interessenwucht eines Vier- bis Fünf-Milliarden-Projekts schon heute wie ein Albtraum vorkommen. Vielleicht erscheint deshalb manchem S-21-Gegner in der Regierung zuweilen die sündige Hoffnung am Firmament, dass es doch leichter für ihn wäre, wenn am 27. November oder schon vorher beim Staatsgerichtshof die S-21-Befürworter jubeln. Könnte man dann nicht einfach sagen: "Mir hend dochs Menschamegliche gmacht."

Doch so etwas Verführerisches darf man auch als Katholik, der regelmäßig die Sünden beichten kann, nicht einmal denken. Denn die S-21-Gegner der Bürgerbewegung würden das sofort wittern und empört "Verrat" skandieren. Jede Wahl in den kommenden Jahren wäre schon heute haushoch verloren.

Die Bürgerbewegung hat bereits viel erreicht

Diese Bürgerbewegung zu S 21 hat durch ihr Engagement schon viel erreicht: Das Großprojekt wird – welche Variante sich letzten Endes auch durchsetzt – viel besser und sicherer werden als die Ausgangsvariante. Auch die Bürgerrechte bei der direkten Beteiligung an infrastrukturellen Großprojekten werden durch die Aktionen und Impulse der Bürgerbewegung zu S 21 – man kann das auch "Stuttgarter Republik" nennen – massiv gestärkt werden, und zwar im Land, national, aber auch international. Es geht um eine Demokratie, die den Menschen nicht nur einmal in vier oder fünf Jahren eine pauschale Stimmabgabe ermöglicht. Es geht darum, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch unabhängig von Parlamentswahlen in die sie betreffenden staatlichen Planungen rechtzeitig einbringen können. Einfach weil sie die Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort oft besser kennen als die Planungsinstanzen.

Wie viel Sachverstand und Kreativität aus der Bürgerbewegung gewachsen sind, wurde erst im Rahmen der Stuttgarter Faktenschlichtung sichtbar gemacht. Der Weg zur Volksabstimmung in Baden-Württemberg kann trotz aller Schwierigkeiten und Risiken eine Fortentwicklung unserer Demokratie beschleunigen. Die Dieter Spöri.Volksabstimmung kann Bewegung und Impulse bringen, dass weit über das Land hinaus hinaus die rechtlichen Grundlagen für die Stärkung der direkten Bürgerbeteiligung geschaffen oder verbessert werden.

Diese großen Chancen werden nur dann genutzt, wenn die gesellschaftliche Debatte in Baden-Württemberg mit demselben Engagement, Sachverstand und derselben Ernsthaftigkeit wie in der Faktenschlichtung geführt wird.

Dieter Spöri (68) war stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in der Großen Koalition von Erwin Teufel (1992 bis 1996). Er gehörte zehn Jahre lang dem SPD-Bundesvorstand an, war Daimler-Bevollmächtigter in Berlin und ist heute Präsident der Europäischen Bewegung Deutschland.


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5 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 18.02.2019
    Antworten
    @Dieter Spöri,
    Ihr Artikel wurde Anfang September 2011 veröffentlicht.
    Zu diesem Zeitpunkt, genauer von 2006 bis 2012, waren Sie Präsident des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland.
    Als stellv. Ministerpräsident, im Amt des Wirtschaftsministers B-W von 1992 bis 1996, konnten Sie sich mit den…
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