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Selektive Trauer

Selektive Trauer
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Angela Merkel und François Hollande fahren zur Absturzstelle des Germanwings-Flugs in den französischen Alpen. Es heißt, sie seien dort, um zu trauern, in Gedanken bei den Opfern und ihren Angehörigen. Unser Autor hat daran erhebliche Zweifel.

Als Menschen recht unterschiedlicher politischer Couleur sich darin überschlugen, ihr Verlangen nach Identifikation mit den Opfern des Mordanschlags auf Redakteure der Zeitschrift "Charlie Hebdo" öffentlich kundzutun, sagte Sahra Wagenknecht: "Wenn eine vom Westen gesteuerte Drohne eine unschuldige arabische oder afghanische Familie auslöscht, ist das ein genauso verabscheuungswürdiges Verbrechen wie die Terroranschläge von Paris, und es sollte uns mit der gleichen Betroffenheit und dem gleichen Entsetzen erfüllen."

Was ist falsch an dieser Aussage? Was lässt sich gegen sie vorbringen? Offenbar allein die Tatsache, dass Sahra Wagenknecht Mitglied der Linken ist. Weder faktisch noch moralisch lässt sich Wagenknechts Feststellung und Postulat widerlegen. Trotzdem empörten sich, kaum war Wagenknechts Äußerung publiziert worden, die üblichen Verdächtigen, allen voran der dem Seeheimer Kreis zugehörige Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag Thomas Oppermann: "Den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan mit dem Terror-Angriff von Paris zu vergleichen ist eine unsägliche Entgleisung und Beleidigung für alle deutschen Soldaten."

Das sollte man im Gedächtnis behalten, wenn Politiker vorgeben, zu trauern, in Gedanken und mit Gebeten bei den Opfern und ihren Angehörigen zu sein. Ihre Trauer ist selektiv und schlägt schnell in Rage um, wenn Trauer nicht in ihr politisches Konzept passt. Ihre öffentliche Trauer ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sympathieköder, ein Selbstdarstellungsakt für die Medien, ein Kalkül, im besten Fall ein Ritual, ein rhetorisches Zeremoniell. Sie dient einzig und allein der Ausbeutung der allgemeinen Erschütterung für wahlarithmetische Zwecke. Der so genannte Mann oder auch die Frau von der Straße, die nicht um Stimmen buhlen müssen, sind der Wahrheit wohl näher, wenn sie auf die Frage, was ihnen nach einer Katastrophe als erstes durch den Kopf gegangen sei, antworten: "Was ein Glück, dass ich nicht dabei war."

Kaum hatten die Nachrichtenagenturen den Absturz der Germanwings-Maschine auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf gemeldet, ließen die Staatsoberhäupter oder Regierungschefs von Spanien, Frankreich und Deutschland wissen, dass sie nicht nur trauerten, sondern sich zudem mit prominenter Entourage an den Ort des Geschehens begeben würden. Die Welt konnte sie sehen, wie sie in gebirgiger Höhe die Front der Helfer abschritten, Hände schüttelten und, vor den Nationalflaggen, versteht sich, eine Pressekonferenz abhielten. Zuletzt hatten sie sich in Paris getroffen, um in einer Nebenstraße ein Gruppenfoto machen zu lassen.

Will man den Tränen dieser Herrschaften trauen?

Der Internationale Autorenverband PEN hat daran erinnert, in welcher Gesellschaft François Holland, Mariano Rajoy und Angela Merkel da getrauert und ihre Solidarität mit erschossenen Journalisten demonstriert haben: Arm in Arm nämlich mit Regierungsvertretern von Ländern, in denen die Meinungsfreiheit aktiv eingeschränkt wird und Schriftsteller Morden, Gewalt und Gefängnis ausgesetzt sind. Wie in der Türkei, wo mehr als 20 Journalisten inhaftiert sind und Dutzende weitere unter Anklage stehen; wie in Russland, wo zahlreiche Journalisten ermordet wurden und in den allermeisten Fällen niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde; wie in Ägypten, Bahrain, Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo zahlreiche Journalisten, Blogger und Dichter hinter Gittern sitzen oder, wie Raif Badawi, unter Lebensgefahr öffentlich ausgepeitscht werden. Will man den Tränen dieser Herrschaften trauen?

Nun ist es in der Tat erschütternd, wenn, wie im Fall des verunglückten Fliegers, 150 Menschen auf einen Schlag ums Leben kommen. Und niemand wollte daran zweifeln, dass Politiker wie ganz normale Menschen schockiert sind, wenn sie davon erfahren. Aber zwischen dem privaten Schock und der öffentlichen Zurschaustellung liegt für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die politische Reflexion. Und die müsste Frau Merkel zum Beispiel einflüstern, dass in Deutschland im Monat rund 300 Menschen - also zwei Mal so viele wie bei dem Flugzeugunglück - bei Verkehrsunfällen sterben, und das nicht alle paar Jahre, sondern im Schnitt jeden Monat. In Europa sind es monatlich rund 2000 oder täglich 70 Menschen, die dem Straßenverkehr zum Opfer fallen. Von der Trauer der Politiker war bisher nichts zu vernehmen und auch nicht von einer Änderung ihrer Agenda.

Das muss wohl seine Gründe haben. Könnte es daran liegen, dass man, wenn man die täglichen Verkehrstoten betrauerte, wie man jetzt die Toten in den südfranzösischen Alpen zu betrauern vorgibt, nicht nur nach den Ursachen fahnden, sondern auch Konsequenzen ziehen müsste? Könnte es daran liegen, dass man dann strenge gesetzliche Maßnahmen ergreifen müsste, um die Autoindustrie zu zwingen, alle erdenklichen Sicherheitsvorrichtungen nicht nur zu entwickeln, sondern auch serienmäßig in ihre Produkte einzubauen, selbst wenn das mit Umsatzeinbußen verbunden ist?

Trauer auf einer Kondolenztour muss Verdacht erregen

Es geht nicht um Schuldzuweisung - das ist die Sichtweise der Versicherungen, die möglichst wenig zahlen wollen -, sondern um Schlussfolgerungen für die Zukunft. Trauer, die nicht mehr kostet als eine Kondolenztour, sollte ebenso Verdacht erregen wie ein Eingeständnis angeblicher Fehler, ein "mea culpa", das nur Vorteile einbringt und die Karriere befördert. Dass der Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen tragisch ist, wird kein halbwegs vernünftiger Mensch bestreiten. Aber nach wie vor gilt, dass Fliegen die sicherste Art der Fortbewegung ist. Der ökologische Schaden steht auf einem anderen Blatt. 

Nach dem Kenntnisstand bei der Abfassung dieses Artikels weist alles auf eine Selbstmordabsicht eines Copiloten hin, der den Tod von 149 Menschen in Kauf genommen hat (wobei wir hier nicht die unappetitliche Unsitte vieler Medien reproduzieren wollen, Vermutungen und Hypothesen als gesicherte Tatsachen auszugeben, ehe sich diese Medien wieder wichtigeren Themen zuwenden wie einem Abspeckprogramm für Hund und Herrchen oder der Scheidung von Bettina und Christian Wulff). Die Tragödie von Seyne-les-Alpes muss man, so schwer das fallen mag, als Restrisiko verbuchen, das, anders als viele Karambolagen auf den Straßen, als Unfälle am Arbeitsplatz wegen vernachlässigter Arbeitsschutzmaßnahmen oder als "Kollateralschäden" bei militärischen Aktionen, nicht zu verhindern ist.

Menschliches Versagen ist noch weniger berechenbar und prognostizierbar als technisches Versagen. So unwahrscheinlich und zum Glück selten ein Fall wie der aktuelle ist, so sehr entspricht es der üblichen leeren Rhetorik, wenn Angela Merkel sagt, es gehe "über jedes Vorstellungsvermögen hinaus", dass der Copilot das Flugzeug bewusst zum Absturz gebracht habe. Die Drehbuchautoren von Krimiserien stellen sich Szenarien wie dieses alle paar Tage vor. Vorzustellen vermag man sie sich sehr wohl. Nur wenn sie in der Wirklichkeit, diesseits der Fiktion, eintreffen, geraten die Begriffe durcheinander.

Schlichtweg beunruhigend aber ist es, wenn eine Frau, die an den Schalthebeln der Macht sitzt, die also im tatsächlichen oder vermeintlichen Verteidigungsfall die oberste Befehls- und Kommandogewalt innehat und über Krieg und Frieden entscheidet, sich den unerwarteten Ausbruch einer psychischen Erkrankung, einen plötzlichen depressiven Schub nicht vorstellen kann. Die Konsequenzen aus dem Schreckensdrama haben nicht die Politiker, sondern die Fluggesellschaften gezogen: Ab sofort muss das Cockpit immer von zumindest zwei Menschen besetzt sein. Absolute Sicherheit kann auch diese Maßnahme nicht garantieren. Gerade der aktuelle Fall beweist, dass eine Aktion, die der Sicherheit (gegenüber Terroranschlägen) dienen sollte, nämlich dass sich die Tür zum Cockpit nicht von außen öffnen lässt, das Gegenteil bewirken kann.

Es könnten auch die Toten im Straßenverkehr betrauert werden

Dass die Bundeskanzlerin weder die Absicht hatte noch hat, irgendetwas zu unternehmen, was die Profite der Autoindustrie verringern könnte, findet man an versteckter Stelle bestätigt. Als sie vor zwei Jahren beim EU-Gipfel erst einmal auf eine Verschiebung der Abstimmung über - inzwischen in veränderter Form vereinbarte - strengere CO2-Abgasnormen drang, ließ sie ihren Vize-Regierungssprecher erklären: "Gleichzeitig brauchen wir aber auch eine faire Lösung, die den Besonderheiten der deutschen Automobilindustrie Rechnung trägt." Worin diese Besonderheiten bestehen, konnte man damals der dpa-Meldung ebenfalls entnehmen: "Deutschland fürchtete Nachteile für seine Oberklasse-Hersteller Mercedes, BMW und Audi".

Darf man sich bei dieser Mentalität wundern, wenn es wenig politisches Interesse daran gibt, die Toten im Straßenverkehr zu betrauern? Wahrscheinlich wird der Fraktionsvorsitzende der SPD und vielleicht sogar der eine oder andere Gewerkschafter entgegnen, solch ein Hinweis sei eine Beleidigung für alle deutschen Beschäftigten in der Automobilindustrie.

Lediglich mit den Grünen könnten wir uns in dieser Frage wohl einigen. Ob der Schulterschluss anhält, wenn wir darauf aufmerksam machen, dass die Verhungernden in der Dritten Welt, denen man, anders als den Toten in Seyne-les-Alpes, noch helfen könnte, oder, ja, ob die Opfer westlicher Drohnen, die allein im ersten Halbjahr 2014 1564 getöteten Zivilisten in Afghanistan, wo die NATO unter Beteiligung der Bundeswehr für Sicherheit sorgt, nicht weniger Trauer verdienen als eben jene Toten, und dass sie, wenn es denn nützt, eine Reise von Regierungschefs und -chefinnen nicht weniger rechtfertigen als ein abgestürztes Flugzeug, wäre zu überprüfen.

Eins freilich ist inmitten dieser widerwärtigen Heuchelei doch tröstlich: Die so genannten "einfachen Menschen" durchschauen das Spektakel. Sie nehmen den Politikern ihre demonstrative Trauer ebenso wenig ab wie ihre Versprechen und ihre Erfolgsberichte. Sie wissen nämlich, was Trauer wirklich bedeutet. Sie erleiden sie, wenn der Lebenspartner stirbt oder das eigene Kind an Krebs erkrankt. "Das Gedenken ist vor allem auch eine private Sache", sagte die Bürgermeisterin von Montabaur, dem Wohnort des Todespiloten. Sie wollte nicht vor die Fernsehkameras treten. Sie hat als einzige unter den Politikern angemessen reagiert.


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25 Kommentare verfügbar

  • Michael Schöfer
    am 08.04.2015
    Antworten
    @Schwabe

    Hier bewegen wir uns im Bereich der Psychologie, das Ganze hat etwas mit der Aufmerksamkeit zu tun. Genauer: mit der Schwelle, ab der ein Reiz unsere Aufmerksamkeit bekommt. Und da bekommen eben 150 Tote bei einem Flugzeugabsturz naturgemäß wesentlich mehr Aufmerksamkeit als täglich 70…
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