In seiner Radikalenentscheidung vom 22. Mai 1975 – in der es, wohlgemerkt, um die Übernahme eines Bewerbers in das Beamtenverhältnis ging, und zwar in den Vorbereitungsdienst, also in ein widerrufliches –, gibt das Gericht diese Eindeutigkeit preis, indem es eine höchst künstliche Unterscheidung trifft zwischen "dem politischen Aktivbürger in der Gesellschaft" und dem Bürger "als Beamten", eine standesmäßige Unterscheidung gleichsam, die in anderen, älteren Demokratien undenkbar wäre. Außerdem widerspricht sie dem Begriff des Grundrechts, das allen Bürgern zusteht.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dieser Entscheidung in seinem streitbaren Eifer auch gleich zum Gesetzgeber, über den ihm vorliegenden Fall hinaus, aufgeworfen, indem es auch im Fall eines bereits angestellten Beamten die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst für zulässig erklärt, und zwar wegen Verletzung der "Treuepflicht". Mithilfe dieses Begriffes werden die Rechte aus dem Parteienprivileg aus den Angeln gehoben und wird gerade das ermöglicht, was das Grundgesetz verbieten will: dass nämlich irgendwelche Verwaltungsbehörden und Gerichte nach ihrem Ermessen über die Verfassungswidrigkeit von Parteien entscheiden können. Das geschieht nun massenhaft. Es ist klar, dass das Dienst- und Treueverhältnis, von dem Artikel 33 des Grundgesetzes spricht, nicht die spezielle, neue und einschneidende Gestaltung des Parteienprivilegs außer Kraft setzen kann. Dieses Parteienprivileg ist als Recht auf freie Gründung und freie Betätigung von Parteien ja doppelt gesichert: sowohl durch das Monopol des Bundesverfassungsgerichts wie durch den notwendigen Verbotsantrag der Regierung.
Nicht Treuepflicht, sondern Pflichttreue
Mit dem "Dienst- und Treueverhältnis" wollten die Verfassungsväter, wie die Beratungen des Parlamentarischen Rates ergeben, Beamtenstreiks vorbeugen. Es ist das Verhalten im und zum Amt gemeint; nicht Treuepflicht, sondern Pflichttreue. Auch soweit die Beamtengesetze darüber hinausgehen, können sie nicht die Voraussetzungen ändern, an die das Grundgesetz das Verdikt der Verfassungswidrigkeit geknüpft hat; im Gegenteil, sie werden dadurch erst wichtig und notwendig, weil davon lebensentscheidende Sanktionen gegen einzelne Bürger abhängig sind. Der Fall Güde zeigt das deutlich.
Das Parteienprivileg des Artikels 21 hatte seine guten historischen Motive: vor allem die skandalöse Einseitigkeit der politischen Verfolgung in der Weimarer Zeit durch die Justiz. Als die Nationalsozialisten sich des Staatsapparats bemächtigt und schon im Jahre 1933 mithilfe der SS die ersten massenhaften Terrorakte gegen Freiheit und Leben begangen hatten, musste man mit wachsender Bestürzung feststellen, wie die Beamtenschaft zuhauf in die NSDAP strömte und wie sich vor dem schlauerweise verordneten Torschluss vom 1. Mai 1933 für den Parteieintritt riesige Schlangen bildeten.
Nicht aus Gesinnung oder Überzeugung, beileibe nicht; es gab recht wenig Nationalsozialisten in der Beamtenschaft. Nein, aus Anpassung, aus Angst um die Karriere oder aus Angst schlechthin, allenfalls aus Heimweh nach den vergangenen Tagen des Obrigkeitsstaats. Nationalsozialistische Gesinnung wurde nur gemimt, im vertrauten Kreise verspottet.
Gesinnung durch Gehorsam ersetzt
Am 1. Juli 1937, dem nächsten Eintrittsschlusstermin, wiederholte sich der Vorgang ebenso massenhaft. Als im Jahre 1945 die Hitler-Himmler-Bande abgetreten war, wurde mir dieser Sachverhalt noch einmal in riesigen Stößen von Fragebogen gegenwärtig. Der deutsche Beamte hatte Gesinnung durch Gehorsam ersetzt. Das war schon der Albdruck Theodor Mommsens, der den Drang der Deutschen beklagt, "im Glied zu dienen". Diese Anpassung und dieser Gehorsam waren die Voraussetzungen für die Ausübung des Massenterrors. Man lese dazu das große Werk von H. G. Adler: "Der verwaltete Mensch". Die Beamten der Staats- und Kommunalverwaltungen haben bei den Judendeportationen, bei der Ausraubung und Tötung fast reibungslos kooperiert, einschließlich der Finanzbehörden, die mit der Einziehung und Verwertung des Vermögens der Juden samt ihren Goldzähnen und Schmuckstücken befasst waren. Die beamteten Professoren des öffentlichen Rechts haben die theoretische Begründung für die Praxis des Himmler-Staats geliefert.
Was geschähe, wenn wieder das Kommando "rechtsum" käme? Das ist historisch die reale Gefahr, während wir uns mit der Radikalenpraxis gegen ein fiktives Risiko wenden. Je freier und mannigfaltiger die politische Meinungsäußerung und Gruppenbildung ist, je ungehemmter sich politische Gesinnungen betätigen können, umso geringer ist die Gefahr. Die Engländer wissen das längst. Die Grenze ist das Strafgesetz.
Dass sich radikale, extremistische Tendenzen zeigen, vor allem bei Menschen in der ersten Lebenshälfte, ist ein natürlicher Vorgang. Häufig hat solche Radikalität religiöse Wurzeln; manche halten den Staat überhaupt für Teufelswerk und berufen sich auf die christliche Botschaft. Es wäre verhängnisvoll, wenn solche Gesinnungen, soweit sie nicht so strafbaren Handlungen führen, wieder zum Gegenstand von rechtlichen Sanktionen, zur bürgerlichen Ächtung, zur Feinderklärung im Sinne des Professors Carl Schmitt würden. Aus Radikalen sind schon oft wertvolle Mitbürger und angesehene Politiker geworden. Ein unverfängliches Beispiel ist Frankreich: Georges Clemenceau und Aristide Briand haben als scharfe Radikale begonnen.
Extremisten integrieren
Ein freies und vernünftiges Staatswesen wird solche Extremisten integrieren, indem es sie zum "langen Marsch durch die Institutionen" einlädt. Ist das nicht ein Stück demokratischer Prozess? Es ist merkwürdig, dass ebender junge Mann – Rudi Dutschke –, von dem diese Formel stammt, nicht Täter, sondern Opfer des Terrorismus geworden ist.
Ganz falsch ist es, Bekenntnisse abzuverlangen, die Polizei nach Gesinnungen forschen zu lassen, Parteiprogramme oder sozialistische Klassiker auf Gewaltthesen abzusuchen, da doch diese Programme und Schriften historisch nur der Reflex sozialer Zustände des 19. Jahrhunderts sind, der aus Tradition oder Trägheit weiter gepflegt wird.
Die kommunistischen Sektierergruppen mit der heutigen Welle des Individualterrors zu belasten ist unrichtig; am allerwenigsten dürfte es bei den Maoisten zutreffen. Die Diskussion über die wirklichen Ursachen des Terrorismus, die endlich in Gang gekommen ist, hat bis jetzt andere, vor allem individuelle, psychologische oder gar psychopathische Kausalitäten zutage gefördert.
2 Kommentare verfügbar
Kornelia
am 18.12.2013Der Streit um S21 hat -wieder einmal gezeigt- das wir dringend ein…