Den Ernstfall, Hunderte Ernstfälle lieferte der inzwischen abgegangene Stuttgarter Staatsanwalt Bernhard Häußler. Über Monate, inzwischen Jahre stand der Vorwurf im Raum, Häußler verfolge Tiefbahnhofsgegner besonders hart. Zumal im Vergleich zu jenen Polizisten, die im Schlossgarten geprügelt oder getreten haben, die den Einsatz von Pfefferspray und Wasserwerfer freigaben. Umso zartfühlender sei aber Häußlers Umgang mit den CDU-Politikern gewesen, die die Eskalation am Schwarzen Donnerstag mit zu verantworten hatten. "Stickelberger hätte aktiv werden können", so Christoph Strecker, der lange Jahre Richter war, "er hätte einen Gesprächskreis einberufen und notfalls ein Machtwort sprechen können." Er sagt nicht müssen, denn: "Aktiv werden müssen hätte die Staatsanwaltschaft selber." Roland Kugler plädiert "für Zurückhaltung in alle Richtungen". Mehr noch: Er achte gerade jene Justizminister besonders, die sich "vornehm mäßigen". Standards müssten für alle gelten, weiß der bekannte Stuttgarter Strafverteidiger, der eher zur linken Szene zählt und für die Grünen im Gemeinderat der Landeshauptstadt saß. Denn: "Es können wieder andere Tage kommen."
Einflussnahme von allen Seiten möglich
Zur Rechtfertigung für Übergriffe könnten sich Nachfolger dann ausgerechnet auf eine grün-rote Landesregierung berufen. Stickelberger sieht das nicht anders. "Jeder Minister, der Einfluss nimmt, läuft Gefahr, sich politisch auf die eine oder andere Seite zu schlagen." Natürlich seien ihm die Forderungen, Häußler zu bremsen, bekannt gewesen. "Ich habe mich nicht aus Furcht oder aus Bequemlichkeit zurückgehalten", erläutert er, "sondern weil der Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz nur dann ein Grundsatz ist, wenn er immer gilt." Zumal "auch von der anderen Seite Avancen gekommen" seien, im Klartext: Einzelne Polizeibeamte hätten ihn darauf angesprochen, ob er die Ermittlungen gegen Kollegen nicht beeinflussen wolle. Ebenfalls ohne Erfolg.
Die Rechtslage ist eindeutig. Nach der Anordnung vom 15. Dezember 2010, getroffen noch vom FDP-Vorgänger Ulrich Goll, berichten Staatsanwaltschaften dem Justizministerium, um dieses "in die Lage zu versetzen, zeitnah die Sach- und Rechtslage zu beurteilen, die ihm von Gesetzes wegen obliegende Aufsicht auszuüben und auf Nachfragen von dritter Seite Auskunft zu geben". Die Aufsicht und Leitung "hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes" ist im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt und steht der Landesjustizverwaltung zu. Derzeit gärt ein Expertenstreit darüber, ob die Abhängigkeit der Staatsanwälte nicht gänzlich zu beenden ist. Im europaweiten Vergleich, argumentiert der Deutsche Richterbund (DRB), steht Deutschland beim Thema Weisungsrecht schlecht da. Auch Brüssel will für die geplante EU-Staatsanwaltschaft jede Möglichkeit der Einflussnahme ausdrücklich ausschließen. Der DRB-Vorsitzende Christoph Frank erinnert an einen schon vor zehn Jahren vorgelegten Gesetzentwurf. Die Minister hätten sich ohnehin "eine Art Selbstbeschränkung auferlegt" und müssten deshalb jetzt den letzten entscheidenden Schritt gehen: "Allein der böse Schein schadet dem Ansehen der Justiz."
Was wäre bei einem Eingreifen gewesen?
Es gibt zwei weitere aufsehenerregende Fälle im Land, die nach Meinung einer interessierten wie engagierten Öffentlichkeit genau diesen Grundsätzen nicht gerecht werden. Wieder geht es um Häußler, dessen Abteilung eineinhalb Jahre keine Ermittlungen gegen Stefan Mappus im Zusammenhang mit dem Rückkauf der EnBW-Aktien aufnehmen wollte. Und vor allem wurde keine Anklage erhoben rund um die Ereignissen im Falle von Sant'Anna di Stazzema. In dem tokanischen Dorf massakrierte die Waffen-SS im August 1944 mehr als 500 Menschen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die seit 2002 ermittelte, stellte das Verfahren vor gut einem Jahr ein, weil kein individueller Schuldnachweis zu erbringen sei. Stickelberger griff nicht ein, appelliert an seine Kritiker, den Vorgang "aus allen Blickwinkeln" und unter der Überschrift "Was wäre gewesen, wenn?" zu betrachten. Was wäre gewesen, wenn der Justizminister die Staatsanwaltschaft angewiesen, der Prozess aber mit einem Freispruch geendet hätte? Auch linke Juristen verweisen auf die engen Grenzen, die der Bundesgerichtshof gesetzt hat, um Soldaten des Zweiten Weltkriegs wegen Mordes oder Beihilfe verantwortlich zu machen zu können.
"Mister Samthandschuh" nennen manche Kritiker, die ihm insgesamt eher wohlgesinnt sind, den Südbadener. Feigheit meinen andere zu entdecken, in seiner Biografie finden sich dafür die Indizien nicht wirklich. Dieser Tage war der Minister in seinem alten Gymnasium in Lörrach, auf Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Eine Klasse unter ihm: der spätere RAF-Terrorist Christian Klar, dessen Vater Rektor der Schule war. "Ich war nie radikal", erinnert sich Stickelberger. Aufmüpfig aber schon. Er trug lange Haare, nächtelang wurde diskutiert, erst recht in der Studienzeit in Freiburg, seit der er mit mit dem späteren CDU-Innenminister Thomas Schäuble verbunden war. Die Radikalisierung, die K-Gruppen, die theoretischen Dispute auf der einen, die bürgerlichen Weggefährten wie Schäuble auf der anderen. Dazwischen der junge Sozi, dem es hauptsächlich um konkrete Politik zugunsten von Menschen ging. "Und das ist bis heute geblieben", beschreibt er sich selber.
Die Privatisierung der Justiz gestoppt
Gleich nach Amtsantritt beginnt er, neoliberale Privatisierungsvorhaben in der Justiz rückabzuwickeln. Stickelbergers Vorgänger Goll wollte sogar private Gefängnisse einrichten. Der Sozialdemokrat verhilft dem "starken Staat" in diesem Bereich zur Renaissance, weil sich der Staat "selbstbewusst der notwendigen Aufgaben annehmen muss, vor allem dann, wenn es um Grundrechte geht". Baden-Württemberg marschiert voran in Sachen Doping. Als die Initiative zur gesetzlichen Strafbarkeit vor einem Jahr auf den Tisch kam, wurde sie als naiv belächelt, inzwischen hat der Gesetzentwurf den Bundesrat passiert, selbst Sportverbände lenken ein.
Auch innerhalb der SPD "gehört Angepasstheit nicht zu den Attributen, die einem zuallererst einfallen", beschreibt Landtagsvize Wolfgang Drexler den Genossen. Der hatte sich, damals als einfacher Abgeordneter, öffentlich schon gegen die glücklose Fraktions- und Landeschefin Ute Vogt positioniert, als viele andere nur hinter vorgehaltener Hand mosern mochten. Aus seiner Kritik an der Deutschen Bahn macht der Minister ebenfalls kein Hehl. Die habe die Bevölkerung an der Oberrheinstrecke "am Seil heruntergelassen", klagt er und erzählt von "langen leidvollen Erfahrungen" um Arbeits- und Vorgehensweisen der DB. Im Kabinett hat er in Sachen Ausstieg aus der Finanzierung von Stuttgart 21 mit den Grünen gestimmt. Ziemlich eng wurde es gleich nach Amtsantritt, als er, der Rote, auf einem Parteitag des Koalitionspartners in Aalen auftritt und dort bekennt, mit den Grünen "manchmal bessere Erfahrungen zu machen als mit der eigenen Partei". Stickelberger, der bei der Fasnacht daheim in Haitingen mit wenig Maskierungsaufwand auch als Double von Schauspieler Jack Nicholson in älteren Jahren durchgehen könnte, musste hinter geschlossenen Türen Abbitte leisten. Es gab einzelne Stimmen, die seinen Rücktritt verlangten. Genüsslich verbreiten S-21-Projektbefürworter in der Fraktion danach Einzelheiten aus der turbulenten Fraktionssitzung.
"Profilierung nur auf Kosten anderer" sei ihm fremd, sagt er, erst recht in der Koalition, denn die Landesregierung entweder gemeinsam gewählt oder gar nicht. Und dann fällt ein Satz, der wie ein Lebensmotto klingt: "Wenn ich etwas mache, dann mache ich es ordentlich." Taekwondo schult das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und stärkt das Selbstbewusstsein. "Wer keinen kühlen Kopf bewahrt", weiß der Justizminister nach elf Jahren Training, "hat schon verloren." Der Umkehrschluss ist allerdings auch keine Erfolgsgarantie.
6 Kommentare verfügbar
Ulrich Frank
am 22.12.2013(http://www.heise.de/tp/artikel/40/40611/1.html)
Das gilt aber nicht nur für die USA sondern auch für Europa…