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Der frühe Morgen des 28. Juli 1992 schien für die Betriebsmannschaft des Kernkraftwerks Barsebäck an der Westküste Schwedens ein Tag wie jeder andere zu werden. Reaktor Nummer zwei sollte nach einem Brennelemente-Wechsel wieder ans Netz gehen. Die Mannschaft hatte den Meiler gerade auf zwei Prozent Leistung hochgefahren und ahnte nicht, dass ein Ventil im Kühlkreislauf innerhalb des Reaktorsicherheitsbehälters während der Revision falsch zusammengebaut worden war. Um 5.28 Uhr hielt dieses Ventil dem steigenden Druck nicht mehr stand und flog auseinander. Pro Sekunde schossen 38 Liter Wasserdampf mit einer Temperatur von 200 Grad aus dem Rohr. Noch war die Situation nicht dramatisch. Der Reaktor war noch nicht vollständig heiß, und das sollte sich in wenigen Minuten als außerordentliches Glück erweisen.
Die folgenden Sekunden waren klassische Störfallroutine. Nach einem Leck wird jeder Reaktorsicherheitsbehälter automatisch von der Außenwelt isoliert. Alle Leitungen in Barsebäck waren in weniger als einer Minute hermetisch abgeriegelt. Das System funktionierte - noch. Der Meiler wird danach nur noch von den Wasservorräten innerhalb des Sicherheitsbehälters gekühlt. Der Dampf aus dem Leck kondensiert und sammelt sich in einer Wanne unterhalb des Reaktors. Aus diesem Reaktorsumpf wird das Wasser angesaugt und in den Kühlkreislauf gepumpt. So weit die Theorie.
Diese Routine endet in Barsebäck an jenem Sommertag 1992 nach kaum einer halben Stunde dramatisch. Urplötzlich Wassermangel, die Pumpen stottern, die Kühlung des Reaktors droht zu versagen. Und wenn sie versagt, droht eine Kernschmelze, wie jetzt im japanischen Fukushima. Erst nach 111 hektischen Minuten merken die Reaktorfahrer, was die Ursache für den drohenden Kühlverlust ist. Der heiße Wasserstrahl aus dem Leck hatte mit hohem Druck benachbarte Rohre getroffen, deren Isolierung abgeschält und quasi pulverisiert. 200 Kilogramm Dämmmaterial verstopften die Siebe an den Ansaugstutzen im Notwasserbecken unterhalb des Reaktors und legten das Kühlsystem lahm. Erst als die Betriebsmannschaft nach 148 Minuten beim Pumpen den Rückwärtsgang einlegte, entspannte sich die kritische Situation. Durch die Rückspülung wurden die Pfropfen an den Sieben weggeschwemmt und das Wasser strömte wieder ungehindert.
Experten hatten das Problem unterschätzt
Seitdem beschäftigen sich weltweit zahllose Kommissionen und Arbeitsgruppen wie elektrisiert mit diesem „Barsebäck-Ereignis“. Das Problem mit dieser scheinbar so unspektakulären Sumpfsiebverstopfung und dem daraus folgenden „Kühlmittelverlust-Störfall“ hatten Experten schon 1970 vorhergesagt. Sie hatten Modellrechnungen angestellt, wann welche Menge an Fasern diese Siebe im Reaktorsumpf verstopfen könnten. Sie hatten mit einem Zeitfenster von bis zu zehn Stunden kalkuliert. In Schweden hatte es nur 25 Minuten gedauert. Nach diesem Unfall begannen sie neu zu denken, zu rechnen und ihr Wissen weltweit auszutauschen.
Kraftwerksbetreiber etwa in Belgien erkannten plötzlich, dass sie „das Problem unterschätzt“ hatten und sie diese Störfallsituation mit abgeplatzten Fasern, Isoliermaterial und verklumpten Farbresten nicht vollständig, sondern nur „so weit wie möglich verbessern“ konnten. In den USA kamen Experten zu dem Schluss, dass „das Problem doch ernster ist als angenommen“. In Deutschland hielten die Kraftwerksbetreiber dagegen den Ball flach. Sie befanden, kleinere Maschen an den problematischen Sieben würden das Problem lösen und falls nicht, würden sie mit den Pumpen wieder den Rückwärtsgang einlegen und die Pfropfen wegschwemmen.
Für die Medien war das Thema zu kompliziert und zu unspektakulär. Nur in Fachmagazinen enthüllte Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe erstmals dieses „Risiko mit der Potenz zum Super-GAU“.
Jürgen Trittins Bundesumweltministerium klopfte der hessischen Atomaufsicht kräftig auf die Finger. Im Reaktor Biblis A hatte das Ministerium 2003 festgestellt, dass für die Störfallbeherrschung wichtige Wasserdurchlässe, jene Sumpfsiebe, „entgegen der geltenden Genehmigung von Anfang an zu klein gebaut waren“. Die Anlage wurde daraufhin heruntergefahren und vorübergehend stillgelegt. Der Betreiber hat einen Antrag auf Vergrößerung dieser Sumpfsiebe bei der hessischen Genehmigungsbehörde gestellt, und der Meiler ging wieder ans Netz.
Landesregierung in Stuttgart wiegelt ab
In Baden-Württemberg schien dagegen die Welt in Ordnung. Der Unfall in Schweden war erst nach elf Jahren 2003 in der damaligen Landesregierung angekommen. Sie hatte auf Anfrage der Grünen einräumen müssen, dass diese Sumpfgeschichte alle Kernkraftwerke weltweit betrifft. Während international in Fachgremien debattiert wurde, dass das Problem ernster sei als angenommen, wiegelte die Landesregierung in Stuttgart ab. Sie hatte 2003 ebenfalls "Fachgespräche" geführt und dabei festgestellt, dass es „keine Anhaltspunkte“ gebe, „die die bisherigen Nachweise zur Beherrschung derartiger Störfälle prinzipiell in Frage stellen“. Während die deutschen Atomlobbyisten Ruhe haben wollten, hatte die französische Atomaufsicht zeitgleich eingestanden, dass in ihren Kraftwerken nach dem in Schweden erkannten Problem „die Notkühlung ausfallen“ könnte.
Die verharmlosende Sicht der baden-württembergischen Landesregierung lag dagegen ganz auf der Linie der deutschen Energiekonzerne. In deren Jahresberichten findet sich der Fall Schweden allenfalls als Randnotiz. In farbenprächtigen Hochglanzbroschüren erklärte etwa der RWE-Konzern 2006, dass dieser Störfall in Barsebäck „nicht unmittelbar auf deutsche Kernkraftwerke übertragbar“ sei und dieses „Szenario lediglich eine geringe Auswirkung auf das Sicherheitsniveau unserer Anlagen hat“. Man habe „mit umfangreichen Aktivitäten auf das Ereignis reagiert“ und die „Beherrschung dieses unwahrscheinlichen Störfalls nachgewiesen“. Damit durfte die deutsche Öffentlichkeit wieder beruhigt schlafen.
Was die kritischeren Experten zu dem Problem zu sagen hatten, erfuhr die Öffentlichkeit dagegen nicht. Die halbstaatliche Reaktorsicherheitskommission (RSK) hatte sich ganz anders zu dem Thema geäußert. Unglücklicherweise trug das Protokoll dieser Experten den Stempel „vertraulich“. Hinter verschlossenen Türen hatte die RSK drei Jahre, nachdem deutsche Kraftwerksbetreiber angeblich „die Beherrschung dieses unwahrscheinlichen Störfalls nachgewiesen“ hatten, genau das Gegenteil festgehalten. In jenem vertraulichen Protokoll der Reaktorsicherheitskommission vom 23. Januar 2009 heißt es: Der Ausschuss stellt fest, dass die vorgelegten Berichte zum Nachweis der Kernkühlung bei KMV (Kühlmittelverlust) mit Freisetzung von Isoliermaterial und anderen Stoffen – so wörtlich – „nicht in allen Aspekten nachvollziehbar sind und somit nicht als der vereinbarte und zugesagte geschlossene Nachweis angesehen werden können“. Das Papier blieb in der Schublade verborgen, bis es der Autor Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe ausgrub und im Fachmagazin „Zeo2“ im März 2009 veröffentlichte.
Es folgte die Zeit des geplanten schwarz-gelben Ausstiegs aus dem rot-grünen Atomausstieg. Das Bundesumweltministerium hatte dabei im April 2010 die Gesellschaft für Reaktorsicherheit und einige Wissenschaftler gebeten, Sicherheitsanforderungen bei Laufzeitverlängerungen zu prüfen. Herausgekommen war eine Art Mängelliste, die die Wissenschaftler zu bewerten und abzuarbeiten hatten. Komplizierte technische Details, die von Nicht-Physikern kaum noch verstanden werden. Und dabei gingen die Wissenschaftler ins Grundsätzliche. Sie nahmen in ihren vertraulichen Schreiben kein Blatt vor den Mund. Das renommierte „Physikerbüro Bremen“ meldete grundsätzliche Kritik an der Sicherheitskultur deutscher Atomkraftwerke und deren Aufsichtsbehörden an: „Es ist besonders unverständlich, dass Anforderungen, die sich aus Betriebserfahrungen in deutschen Anlagen ableiten und deren sicherheitstechnische Konsequenzen bundesweit intensiv diskutiert wurden, nunmehr erst im Rahmen einer Laufzeitverlängerung umzusetzen sein sollen“, schrieben sie. Tenor ihrer Kritik: Warum erst jetzt und nicht schon früher?
Die auf „Nuclear Expertises and Training“ spezialisierte “Safe and efficient GmbH” aus Talheim schrieb dem Ministerium ebenfalls deutliche Worte in Stammbuch: „Stellen Aufsichts- und Genehmigungsbehörden im Zusammenhang mit Laufzeitverlängerungen heute derartige Forderungen auf, so drängt sich bestimmt nicht nur mir die Frage hinsichtlich Qualität der viel strapazierten Sicherheitskultur der Betreiber, aber auch hinsichtlich Qualität und Effizienz des atomrechtlichen Aufsichtsverfahrens auf“. Man sollte, schrieben die Projektmanager im Mai 2010 weiter, „diesen Aspekt im Hinblick auf mögliche Folgewirkungen und Glaubwürdigkeitsrelevanz in der öffentlichen Diskussion nicht unterschätzen“. Im März 2011 sollte das Thema Glaubwürdigkeit und Atomkraft Stefan Mappus in den vorzeitigen politischen Ruhestand schicken und dem Musterland Baden-Württemberg den ersten grünen Ministerpräsidenten bescheren.
Der Störfall in Schweden beschäftigt die Atomindustrie bis heute. Das Bundesumweltministerium (BMU) reagierte auf das vertrauliche Protokoll der Reaktorsicherheitskommission mit einem Brandbrief. Ultimativ forderte Berlin im März 2009 die Atomaufsicht der Länder auf, den Fall „innerhalb von drei Monaten“ zu klären. Dem Ministerium war klar geworden, „dass bisher kein vollständiger sicherheitstechnischer Nachweis zur Beherrschung von Kühlmittelverluststörfällen unter Berücksichtigung der Freisetzung von Isoliermaterial und anderen Stoffen vorliegt“, weswegen „keine ausreichende Gewissheit über die Störfallbeherrschung besteht“. Ein Jahr später schien die Antwort zufriedenstellend ausgefallen zu sein. Das BMU erklärte in einer offiziellen Mitteilung vom März 2010, in deutschen Druckwasserreaktoren seien die Maßnahmen zur Beherrschung des Kühlmittelverluststörfalls mit Freisetzung von Isoliermaterial und anderen Stoffen „weitgehend umgesetzt“. Nachfragen unserer Redaktion im Bundesumweltministerium, was im Detail unter „weitgehend umgesetzten Maßnahmen“ zu verstehen sei und in welchen Reaktoren sie nicht umgesetzt sind, blieben unbeantwortet. Seit dem Störfall in Schweden waren fast 19 Jahre vergangen. Solange hatten deutsche Atomaufseher und Energiekonzerne die Kraftwerke in Kenntnis eines gravierenden Sicherheitsproblems laufen lassen.
Foto: Meinrad Heck
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